„Ich kann nicht mehr“, stöhnte das Mädchen.
„Du musst! Denk an deine Mutter!"
Die Angst gab ihnen einen letzten Antrieb. Sie stürmten durch Büsche und Bäume. Im Wald war es kühl und so dunkel, dass sie nicht einmal die Hand vor den Augen sehen konnten. Noch immer stützte Marc das Mädchen. Akandra warf sich plötzlich auf den Boden und blieb keuchend liegen. Auch der Junge sank auf die Knie und schnappte nach Luft. Ihm war schwindlig, und er hatte entsetzliches Seitenstechen. Doch sie konnten sich keine Ruhe gönnen, denn sie hörten die Orokòr lärmend näherkommen. Diesmal hielt sie die Angst vor dem Zauberwald nicht zurück. Der Jagdtrieb ließ die schwarzen Gestalten alle Vorsicht vergessen. Sie brachen Äste von den Bäumen und steckten sie in Brand. Im Nu war die ganze Lichtung hell erleuchtet. Die Erits rafften sich auf und schleppten sich weiter.
„Der Wald mag Feuer nicht“, raunte Akandra. „Ich hoffe, den Orokòr wird das Fürchten beigebracht."
„Was können Bäume diesen schwer bewaffneten und gepanzerten Schurken schon anhaben?"
„Der Wald ist mächtiger, als du dir vorstellen kannst."
Sie zwängten sich vorsichtig und so lautlos wie möglich durch das Unterholz. Dabei achteten sie nicht auf die Richtung, sondern flohen vor dem Licht und dem Lärm. Noch immer hörten sie die Verfolger, die rücksichtslos Sträucher und kleine Bäumchen nieder trampelten. Ihre Fackeln entfachten da und dort kleine Brände. Bald würden sie die Erits einholen. Diese verbargen sich hinter zwei mächtigen Bäumen. An eine weitere Flucht war nicht zu denken. Es blieb ihnen nur noch die Hoffnung, dass die Orokòr an ihnen vorbei stürmen würden, ohne sie zu bemerken. Da hörten sie einen Ruf aus rauer Kehle, der alle Hoffnungen zerstörte: „Hierher, ich kann sie riechen!"
„Mutter, hilf!" flüsterte Akandra, und Marc stöhnte laut auf.
In diesem Augenblick begann ein dumpfes Dröhnen. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Die Bäume bogen sich schwingend hin und her. Über das Brummen und Dröhnen erhob sich nun ein schrilles Pfeifen. Die Erits umarmten sich in Panik, ihr Herz schlug ihnen bis zum Hals. Auch die Orokòr wurden von Furcht gepackt und heulten und schrien wild durcheinander. Einige ließen ihre Fackeln fallen, und das dürre Laub des Bodens entzündete sich. Das Vibrieren wurde noch stärker, und das Brummen und Dröhnen war nun so durchdringend, dass alle das Gefühl hatten, der Kopf müsse ihnen bersten.
Neben Marc war ein riesiger Orokòr aufgetaucht. Er hatte die Augen weit aufgerissen und die Arme erhoben. Gerade als er mit seinen Klauen zuschlagen wollte, stürzte ein mächtiger Ast von einem Baum und erschlug den schwarzen Angreifer. Nun brachen von vielen Bäumen Äste, und jeder Ast traf einen Orokòr. Sie klagten und wimmerten. Plötzlich erwachten auch die Schlingpflanzen, die überall herum hingen, zu eigenem Leben. Sie schlängelten sich von den Bäumen und vom Boden, sie umklammerten hier einen Fuß in groben Lederstiefeln und dort einen Hals und zogen sich mit unwiderstehlicher Gewalt zusammen. Die erdrosselten Orokòr konnten nicht mehr schreien. Sie stöhnten dumpf und brachen dann zusammen.
Noch immer nahm das Brummen und Dröhnen zu. Die Fackeln der nachströmenden Orokòr entfachten mehr und mehr Brände. Es war zu spüren, dass der Wald immer wütender wurde. Holzstücke durchbohrten die Orokòr trotz ihrer Rüstung. Schwarzes Blut spritzte auf Laub und Stämme. Doch das Grausamste kam zuletzt. Kleine unscheinbare Dornen schossen als Pfeile durch die Luft. Sie bohrten sich in Gesichter, in das nackte Fleisch der Arme und die Hälse. Die Dornen taten nicht besonders weh, aber sie hatten eine furchtbare Wirkung. Sie waren vergiftet, und wer von ihnen getroffen wurde, konnte sich von diesem Moment an nicht mehr rühren. Er erstarrte bei vollem Bewusstsein.
Bald war von den Orokòr kein Ton mehr zu hören. Auch die Brände erloschen einer nach dem anderen. Dann war es wieder ganz dunkel und still im Wald. Akandra und Marc sanken zu Boden, unfähig einen Gedanken zu fassen, unfähig etwas zu sagen, noch immer von dem furchtbaren Grauen ergriffen. Beide schluchzten und klammerten sich aneinander. So fielen sie in den Schlaf und erwachten erst, als der neue Tag schon weit fortgeschritten war.
Verwundert blickten sie sich um. Die Ereignisse der Nacht erschienen ihnen im hellen Licht des Tages wie ein böser Traum. Als sie aber die alten Bäume drohend über sich aufragen sahen, schlich sich wieder Furcht in ihre Herzen. Vorsichtig richteten sie sich auf und gewahrten sogleich die erstarrten Orokòr. Mit einem Aufschrei rannten sie los und wagten es nicht sich umzusehen. Blindlings stürmten sie durch die Büsche, bis sie zerkratzt, erschöpft und außer Atem gemeinsam wieder zu Boden sanken. Mühsam bezähmten sie ihre Angst.
„Wo sind wir?" flüsterte Marc.
„Ich weiß es nicht."
„Ob die Orokòr wohl noch hinter uns her sind?"
„Ich glaube, sie sind alle tot."
„Das war eine furchtbare Nacht."
Akandra nickte.
„Wie kommen wir nur wieder aus diesem Wald heraus. Weißt du, wo wir sind?"
Akandra schüttelte den Kopf.
„Du bist nicht sehr gesprächig."
Akandra nickte.
„Aber was sollen wir tun? Wir können hier doch nicht ewig sitzen bleiben."
Akandra zuckte mit den Schultern. Nun war es Marc leid.
„Akandra“, sagte er wütend. „Du sitzt genauso in der Tinte wie ich. Ich nehme nicht an, dass du hier in diesem grauenhaften Wald deinen Lebensabend verbringen willst. Oder verlangst du etwa von mir, dass ich ein paar Bäume fälle und dir eine Hütte baue?"
„Pst“, flüsterte sie erschreckt. „Sag’ so etwas nicht an diesem Ort, nicht einmal im Spaß. Der Wald hört alles, und er kann sehr wütend werden, wie du gestern selbst erlebt hast."
„So erzähl mir doch endlich etwas über diesen seltsamen Wald. Du musst doch etwas über ihn wissen."
Akandra lehnte sich vorsichtig gegen einen Stamm und schloss versonnen die Augen.
„Der Wilde Wald“, begann sie, „existierte schon als die Erde noch ganz jung war. Geschöpfe haben ihn gepflanzt, deren Namen längst vergessen sind. Zuerst waren die Bäume noch unbeholfen und offen. Sie liebten alle Lebewesen und sie ließen sich hegen. Die Tiere des Waldes durften an ihren Trieben nagen, und die Menschen und Achajer sogar hie und da einen Stamm fällen. Aber die Bäume erlebten auch mit Schrecken und Verachtung die Kriege, auf die sich die Menschen später einließen. Sie sahen, dass alle zweibeinigen Lebewesen, wenn es um ihren Vorteil geht, brutal und grausam sind."
„Einige“, warf Marc ein. „Einige, doch nicht alle!"
„Das weiß ich besser und habe deshalb eine andere Meinung als du. Aber lassen wir das! Während sich die Bäume anderer Wälder durch die Zeiten domestizieren ließen, wurde der Wilde Wald durch die Äonen immer mächtiger und weiser, aber auch tückischer. Die Bäume wollten von all den Geschöpfen, die auf dieser Erde leben, nichts mehr wissen. Sie kapselten sich ab und wehe, wenn sich seit dieser Zeit jemand zwischen ihre Stämme verirrt. Nur wenige haben bisher den Wald lebend wieder verlassen. Ich glaube, der Wilde Wald verachtet uns alle."
„Du meinst, die Bäume sind seit Menschengedenken ganz allein unter sich. Keine Tiere, keine Menschen durchstreifen diesen Forst?"
„Du hast Recht. Niemand wird hier geduldet außer Vögeln und..."
„Und...?"
„Und ROM."
„ROM?"
„Nun eben ROM."
„So lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!"
„Ich sollte hier im Wald nicht so viel reden. Unser Aufenthalt ist schon gefährlich genug. Ich habe dir doch gesagt, hier haben die Bäume Ohren."
„Ich will es aber jetzt wissen. Wer oder was ist ROM? Vielleicht kann er uns helfen?"
„Nun gut, damit du Ruhe gibst, erzähl ich dir ein wenig. Viel weiß ich nicht. Also, ROM war schon immer da. So lange Lebewesen sich erinnern können, gibt es ROM. ROM ist der Herr der Wälder. Ihm gehorcht der Wald, und von ihm wird der Wald gehütet und gepflegt. ROM ist unbegreiflich mächtig. Er könnte uns natürlich mit Leichtigkeit helfen. Wenn er wollte, hätten alle Orokòr dieser Welt ausgespielt. Aber er hat ebenso wie sein Wald das Interesse an den Menschen, den Orokòr und sogar an den Achajern verloren."
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