Die großen Baudenkmäler, gerade wie die großen Gebirge, sind das Werk von Jahrhunderten. Oft gestaltet die Kunst sich um, während sie noch ruhen, pendent opera interrupta; Lateinisch: Die unterbrochenen Werke harren der Vollendung. Virgil, Aen. 4, 88. Anm. d. Uebers. sie bilden sich ruhig fort, gemäß der neugestalteten Kunst. Die neue Kunst bemächtigt sich des Denkmals, wo sie es findet, versenkt sich in dasselbe, assimilirt sich mit ihm, entwickelt es nach seinem Geschmacke und beendigt es, wenn sie kann. Das geht ohne Störung, ohne Anstrengung, ohne Rückschritt vor sich, zufolge eines ruhigen Naturgesetzes. Ein Pfropfreis kommt dazu, die Säfte circuliren, wieder beginnt eine Vegetation. Wahrlich, es ist Stoff für sehr große Bücher und oft Weltgeschichte der Menschheit in diesen allmählichen Verbindungen mehrerer Kunstgattungen zu verschiedenen Höhen an ein und demselben Baudenkmale. Der Mensch, der Künstler, das Individuum verschwinden bei diesen großen Massen ohne Namen des Urhebers; es ist der Geist der Menschheit, der sich hier zusammenfaßt und als Ganzes erscheint. Die Zeit ist der Baumeister, ein Volk macht den Maurer.
Um hier nur die christlich-europäische Baukunst, diese nachgeborene Schwester der großen Mauerverbindungen des Orients ins Auge zu fassen, so erscheint sie dem Auge als eine mächtige, in drei scharf gesonderte Schichten getheilte Formation, welche sich übereinander thürmen: die romanische,Dieselbe nennt sich je nach Oertlichkeiten, Klimaten und Gattungen auch lombardische, sächsische und byzantinische. Es sind vier verschwisterte und gleichzeitige Bauarten, jede mit ihrem besonderen Charakter, aber von derselben Grundform, dem Rundbogen, herstammend.
Facies non omnibus una,
Non diversa tamen, qualem etc.
Nicht dasselbe Antlitz haben alle,
Doch auch nicht ein verschiedenes, wie u. s. w.)
Anm. d. Autors. die gothische Schicht und die der Renaissance, welche wir gern die griechisch-römische nennen möchten. Die romanische Schicht, die älteste und unterste, hat den Rundbogen als Merkmal, der, von der griechischen Säule getragen, in der neuen und obersten Schicht, der Renaissance, wieder zum Vorschein kommt. Zwischen beiden liegt der Spitzbogen. Die Bauwerke, welche ausschließlich einer dieser drei Schichten angehören, sind vollständig klar, einheitlich und vollständig. Dahin gehört die Abtei zu Jumièges, die Kathedrale zu Reims, die Heilige Kreuzkirche zu Orléans. Aber die drei Schichten mischen und verschmelzen sich an ihren Grenzscheiden, wie die Farben im Sonnenspectrum. Daher kommen die zusammengesetzten Baudenkmäler, die Gebäude der Abstufungen und Uebergangszeit. Eins ist romanisch in den Grundmauern, gothisch in der Mitte, griechisch-römisch in der Spitze; der Grund ist, weil sechshundert Jahre auf seine Vollendung verwendet worden sind. Diese Abart ist selten. Der Vertheidigungsthurm von Etanges ist ein Muster davon. Doch häufiger sind die Baudenkmäler zweier Formationen. Dahin gehört Notre-Dame in Paris, als Spitzbogenmonument, das mit seinen ersten Pfeilern in jene romanische Schicht hinabtaucht, wohin das Portal von Saint-Denis und das Schiff von Saint-Germain-des-Prés versenkt sind. Dahin gehört der herrliche, halbgothische Kapitelsaal zu Bocherville, bei welchem die romanische Schicht bis zur Mitte der Wände reicht; dahin die Kathedrale zu Rouen, die ganz gothisch sein würde, wenn sie mit der Spitze ihres Mittelthurmes nicht in die Schicht der Renaissance hineinreichte.Dieser Theil des Thurmes, welcher aus Holzwerk bestand, ist genau derselbe, der 1823 vom Feuer des Himmels verzehrt wurde. Anm. d. Autors.
Uebrigens betreffen alle jene Nüancen und Unterschiede nur die Oberfläche der Bauwerke. Die Kunst hat nur am Aeußern Veränderungen vorgenommen. Die Einrichtung des christlichen Gotteshauses ist an und für sich nicht angerührt worden. Es ist immer dieselbe innere Gestalt, dieselbe logische Vertheilung der einzelnen Partien. Welches auch immer die gemeiselte und schmuckvolle Hülle einer Kathedrale sein möge, so findet man dahinter, wenigstens im Keime und im anfänglichen Zustande, immer wieder die römische Basilika. Sie entwickelt sich ewig auf diesem Boden nach demselben Gesetze. Es sind unbeirrterweise zwei Schiffe, die sich kreuzweise durchschneiden, und deren oberer Endtheil, in einen Halbbogen gerundet, den Chor bildet; auch finden sich immer Seitenchöre für die Prozessionen im Innern, für die Kapellen, Gattungen von Seitengängen, wo das Hauptschiff mit seinen Bogenweiten hineinmündet. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, so ändert sich die Zahl der Kapellen, der Portale, der Thürme und Thürmchen ins Unendliche, ganz nach der Phantasie des Jahrhunderts, des Volkes und der Kunst. Ist für den Dienst des Cultus einmal gesorgt und er festgestellt, so verfährt die Baukunst nach Gutdünken. Bildsäulen, Glasmalereien, Rosetten, Arabesken, Zackenwerk, Kapitäle, Basreliefs, alle diese Erzeugnisse der Phantasie bestimmt sie nach einer Berechnung, wie sie ihr paßt. Daher der wunderbare Reichthum im Aeußern dieser Bauwerke, in deren Grundform so viel Ordnung und Einheit herrscht. Der Stamm des Baumes ist unwandelbar, sein Astwerk vielseitig-launig.
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