»Verdammt!« schrie er niederfallend und lag wie todt mit dem Gesichte auf der Erde.
Zugleich hörte er das fürchterliche Geläute über seinem Haupte, und das teuflische Gelächter der Gauner, nicht weniger die Stimme Trouillefou's, welcher rief: »Hebt mir den Kerl auf und hängt ihn ohne Schonung.«
Gringoire stand auf. Man hatte die Puppe schon abgenommen, um ihm Platz zu machen.
Die Diebe ließen ihn auf den Schemel steigen. Clopin kam auf ihn zu, legte ihm den Strick um den Hals und schlug ihn auf die Schulter: »Adieu, mein Freund. Du kannst jetzt nicht mehr entwischen, selbst wenn du mit den Gedärmen des Papstes verdautest.«
Das Wort »Gnade« erstarb auf den Lippen Gringoire's. Er richtete seine Blicke rings um sich her; aber keine Hoffnung war zu erwarten: alle lachten.
»Bellevigne de l'Etoile,« sagte der König von Thunes zu einem baumlangen Gauner, welcher aus der Menge heraustrat, »klettere auf den Balken.«
Bellevigne de l'Etoile kletterte hurtig auf den Querbalken hinauf, und nach Verlauf einer Minute sah Gringoire, der seine Augen emporhob, ihn mit Entsetzen über seinem Kopfe auf dem Balken hocken.
»Jetzt,« fuhr Clopin Trouillefou fort, »sobald ich in die Hände klatsche, wirst du, Andry le Rouge, den Schemel mit einem Knieschub umwerfen; du, Franz Chante-Prune, wirst dich an die Beine des Halunken hängen; und du, Bellevigne, wirst dich auf seine Schultern werfen, aber alle drei zugleich, hört ihr?«
Gringoire schauderte.
»Seid ihr so weit?« sprach Clopin Trouillefou zu den drei Gaunern, die bereit waren, sich auf Gringoire zu stürzen. Der arme Sünder lebte in einem Augenblicke fürchterlicher Erwartung, während Clopin gleichgültig mit der Fußspitze einige Weinholzranken, welche die Flamme nicht erreicht hatte, in das Feuer stieß. »Seid ihr so weit?« wiederholte er und öffnete die Hände zum Klatschen. Eine Secunde noch, und es war geschehen. Aber er hielt inne, wie von einem plötzlichen Einfalle gepackt. »Einen Augenblick,« sagte er, »ich vergaß! . . . Es ist Sitte, daß wir keinen Mann hängen, ohne vorher zu fragen, ob eine Frau da ist, die ihn zum Manne will. Kamerad, das ist deine letzte Hilfe! Du mußt dich zu einer Landstreicherin entschließen oder zum Strange.«
Dieses Zigeunergesetz, so wunderlich es dem Leser erscheinen mag, steht heute noch ausführlich in der altenglischen Gesetzgebung beschrieben. Man sehe darüber: » Burington's Observations «.
Gringoire athmete neu auf. Das war das zweite Mal, daß er, seit einer halben Stunde, ins Leben zurückkehrte. Doch wagte er nicht, allzusehr darauf zu bauen.
»Holla!« rief Clopin, der wieder auf sein Faß gestiegen war, »holla! Weiber, Frauenzimmerchen, ist unter euch Landstreicherinnen eine, von der Hexe bis zu ihrer Katze, die diesen Halunken will? Holla, Colette-la-Charonne! Elisabeth Trouvain! Simone Iodouyne! Marie Piédebou! Thonne-la-Longue! Bérarde Fanouel! Michaele Genaille! Claudine Rougeoreille! Mathurine Girorou! Holla! Isabeau-la-Thierryel! Kommt und seht! Ein Mann umsonst! Wer will ihn?«
Gringoire war ohne Zweifel in dieser elenden Verfassung wenig anziehend. Die Landstreicherinnen zeigten sich diesem Vorschlage nur wenig geneigt. Der Unglückliche hörte sie antworten: »Nein! Nein! Hängt ihn, es wird allen Vergnügen bereiten.« Drei indessen traten aus dem Haufen heraus und beschnoberten ihn. Die eine war ein vierschrötiges Frauenzimmer mit breitem Gesicht. Sie untersuchte aufmerksam das elende Wamms des Philosophen. Der Kittel war abgenutzt und durchlöcherter, als eine Pfanne zum Kastanienbraten. Das Mädchen verzog das Gesicht. »Ein alter Lappen!« brummte sie; dann wandte sie sich an Gringoire: »Laß deinen Mantel sehen!«
»Ich habe ihn verloren,« sagte Gringoire.
»Deinen Hut?«
»Man hat ihn mir genommen.«
»Deine Schuhe?«
»Sie haben fast keine Sohlen mehr.«
»Deine Börse?«
»Ach!« stotterte Gringoire, »ich habe nicht einen Pariser Heller mehr!«
»Laß dich hängen, ich danke!« entgegnete die Landstreicherin und kehrte ihm den Rücken zu.
Die andere, alt, schwarz, runzlig, widerlich und von einer Häßlichkeit, die im Wunderhofe Aufsehen erregte, betrachtete Gringoire von allen Seiten. Er erschrak fast davor, daß sie ihn nehmen könnte. Doch murmelte sie zwischen den Zähnen: »Er ist zu dürr« und ging fort.
Die dritte war ein junges, ziemlich frisches und nicht allzu häßliches Mädchen. »Rettet mich!« sagte der arme Teufel mit leiser Stimme zu ihr. Sie sah ihn einen Augenblick mitleidig an, dann schlug sie die Augen nieder, machte eine Falte in ihrem Rocke und stand unentschlossen. Er folgte mit den Augen allen ihren Bewegungen; es war der letzte Hoffnungsschimmer. »Nein,« sagte das junge Frauenzimmer schließlich, »nein! Wilhelm Longuejoue würde mich schlagen.« Sie kehrte zur Menge zurück.
»Kamerad,« sagte Clopin, »du hast Unglück.« Dann richtete er sich auf seinem Fasse in die Höhe: »Will ihn niemand?« rief er, indem er zur allgemeinen Belustigung die Stimme eines Auctionators nachahmte, »will ihn niemand? zum ersten – zweiten – dritten Male!« Dabei drehte er sich mit einem Kopfnicken nach dem Galgen um: »Fort mit Schaden!«
Bellevigne de l'Etoile, Andry le Rouge und Franz Chante-Prune näherten sich Gringoire.
In diesem Augenblicke erhob sich ein Geschrei unter den Gaunern: »Die Esmeralda! Die Esmeralda!«
Gringoire fuhr zusammen und drehte sich nach der Seite um, wo das Geschrei herkam. Die Menge theilte sich und ließ eine heitere, glänzende Gestalt herein. Es war die Zigeunerin.
»Die Esmeralda!« wiederholte Gringoire, der trotz seiner Erregung von der unerwarteten Weise bestürzt war, mit der das zauberhafte Wort alle Erinnerungen dieses Tages verknüpfte.
Dieses seltsame Geschöpf schien sogar im Wunderhofe die Herrschaft mit ihrer Anmuth und Schönheit auszuüben. Gauner und Diebinnen traten bei ihrem Eintritte ruhig auf die Seite, und ihre thierischen Gesichter erheiterten sich bei ihrem Anblicke.
Sie näherte sich mit schnellem Schritte dem Delinquenten. Ihre niedliche Djali folgte ihr. Gringoire war mehr todt, als lebend. Sie betrachtete ihn einen Augenblick schweigend.
»Ihr wollt diesen Mann hängen?« sagte sie düster zu Clopin.
»Ja, Schwester,« entgegnete der König von Thunes, »wofern du ihn nicht zum Manne nimmst.«
Sie machte mit der Unterlippe ihre reizende schnippische Bewegung.
»Ich nehme ihn,« sagte sie.
Gringoire glaubte in diesem Augenblicke fast, daß er seit dem Morgen nur geträumt habe, und daß, was jetzt geschah, die Fortsetzung dieses Traumes sei.
Der plötzliche Wechsel, wiewohl angenehm, war in der That heftig.
Man knüpfte die Schlinge los und ließ den Dichter vom Schemel herabsteigen. Er mußte sich niedersetzen, so heftig war die Gemüthsbewegung.
Der Herzog von Aegypten brachte, ohne ein Wort zu sprechen, einen irdenen Krug herbei. Die Zigeunerin reichte ihn Gringoire hin. »Werft ihn zur Erde,« sagte sie zu ihm.
Der Krug zerbrach in vier Stücke.
»Bruder,« sagte hierauf der Herzog von Aegypten und legte Beiden die Hände aufs Haupt, »sie ist dein Weib; Schwester, er ist dein Gatte. Auf vier Jahre. Gehet.«
Nach Verlauf einiger Minuten befand sich unser Dichter in einem kleinen, gothisch gewölbten, wohl verschlossenen und gut geheizten Zimmer; er saß an einem Tische, welcher deutlich zu sagen schien, man möge einige Anleihen bei dem ganz in der Nähe hängenden Speiseschränkchen machen; ein gutes Bett hatte er vor sich; zusammen war er mit einem hübschen Mädchen. Das Abenteuer grenzte an Zauberei. Er fing an, sich allen Ernstes für eine Person aus den Feenmärchen zu halten; von Zeit zu Zeit warf er die Blicke um sich her, wie um zu suchen, ob der von zwei Drachen gezogene Flammenwagen, der ihn allein so schnell aus der Unterwelt in das Paradies hatte versetzen können, noch da wäre. Manchmal auch heftete er seine Blicke hartnäckig auf die Löcher seines Wammses, um sich an die Wirklichkeit anzuklammern und um den Boden unter seinen Füßen nicht ganz und gar zu verlieren. Sein in der Traumwelt irrender Verstand hielt sich nur noch an diesem Faden fest.
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