Der Schock saß tief. Was war passiert? Wieso konnte Jo in das Visier der Geheimdienste geraten? Fragen über Fragen. War es gar nicht die Abteilung Abwehr der Stasi, die unsere Familie in die Mangel nahm? Wollte man Jo etwa erpressen? Das MfS (Ministerium für Staatssicherheit) wusste sicher genauso gut wie wir, dass diese ungeheuerlichen Vorwürfe nicht der Wahrheit entsprachen. Auf jeden Fall hatte man es geschafft, uns zu verängstigen. „Eine intelligentere Lösung, als dich einzuschüchtern, konnten sie wohl nicht finden?“ Trotz des Schreckens, den sie mir nachts eingejagt hatten, begriff ich offensichtlich den Ernst der Lage nicht. Jo sah mich an und ich wusste, dass ihn die ganze Geschichte unendlich belastete. „Es dürfte für die Stasi ein Leichtes sein, uns etwas unterzujubeln“, sagte er resignierend.
Oh mein Gott! Eiskalt lief es mir den Rücken herunter. Ich spürte förmlich, wie sich die Härchen meiner Haut aufzustellen begannen, noch bevor die Gänsehaut zu sehen war. Würde Jo dem Druck standhalten?
Wir überlegten hin und her und dann stand für uns fest, dass diese Erpressungstaktik nur von der Abteilung Aufklärung stammen konnte. Man wollte an Gerda heran.
Damals wussten wir natürlich noch nicht, dass die Spionagestrategie des Strippenziehers, auch „der Mann ohne Gesicht“ genannt, darauf gerichtet war, in die Führungszentren insbesondere der bundesdeutschen Gesellschaft und Politik einzudringen. Die Agenten von Markus Wolf schafften es bekanntlich bis in die einflussreichsten Stellungen, selbst bis zum Referenten des Bundeskanzlers. Aber Guillaume war zu diesem Zeitpunkt noch nicht enttarnt.
Wir konnten beide natürlich nicht einschätzen, was sich daraus entwickeln würde. Doch ich war zunächst heilfroh, dass Jo frei war.
Die nächsten Wochen waren schrecklich. Aller paar Tage berichtete mir Jo, dass die Stasi ihn wieder von der Arbeitsstelle weggeholt hätte. Er war inzwischen in einem Wissenschaftlich Technischen Zentrum für Baumechanisierung Abteilungsleiter. Die Gespräche hatten manchmal in einem Auto, meist aber in einer konspirativen Wohnung stattgefunden. Das Ziel war unschwer zu erkennen. Sie wollten um jeden Preis an meine Schwägerin aus Washington heran. Jo sollte detaillierte Angaben machen über deren Einreise und Aufenthaltsdauer, Interessen hinterfragen, zum Beispiel welche Veranstaltungen sie gern besuchen würde und was für Kontakte noch zu früheren Freunden und Bekannten bestünden bzw. vorgesehen wären. Er gab Unwissenheit vor und wurde angewiesen, dies in Briefen zu erfragen. Da wir damals schon guten Grund zur Annahme hatten, dass sämtliche Post kontrolliert werde, tat er es auch.
Je näher der Tag der Einreise heranrückte, desto aggressiver und länger wurden die Gespräche, die nun nur noch in konspirativen Wohnungen stattfanden. Man bot Eintrittskarten für gefragte Veranstaltungen, die wir offiziell so kurzfristig nicht hätten erhalten können, und auch Geld an. Es war sogar zu kleinen Handgreiflichkeiten gekommen, da Jo sich das Geld nicht hatte zustecken lassen. Als er jedoch merkte, wie ernst diese Angelegenheit der Stasi war, wollte er Gerdas Besuch stornieren. Jetzt drohten die Beauftragten des MfS erneut mit einer Inhaftierung, falls er die Einreise seiner Schwester verhindere. Man brauche nur den Verdacht der Spionagetätigkeit der Familie wieder aufzurollen.
Eine Woche vor Gerdas Einreise wurde Jo von den Festlegungen der Stasi unterrichtet: Die Einreise hatte über den Checkpoint-Charlie, den Ausländerübergang, zu erfolgen. Jo sollte Gerda mit dem PKW dort abholen und einen Stopp an der Autobahnraststätte Freienhufen einlegen. Selbst die Mitnahme der kranken Mutter nach Berlin konnte die Beobachtungen nicht verhindern. Wir wussten nicht einmal, ob man im Auto eine Wanze installiert hatte. So sagte Jo seiner Schwester bei der ersten Umarmung nur kurz, dass die Stasi alles beobachte und mithöre.
Das Weihnachtsfest 1972 war keins, an das wir uns gerne zurückerinnern. Gerda hatte sich wohl gewundert, dass sie als Deutsche über den Ausländerübergang einreisen sollte, aber sie kam ja aus den USA. Jedoch als man ihr auch den Zwangsumtausch erlassen wollte, hatte sie darauf bestanden, zu bezahlen. Daraus schöpften die Behörden Verdacht, dass Jo sie unterrichtet haben müsse, was er ja in Wirklichkeit auch getan hatte.
Der Besuch spielte sich fast nur im Familienkreis ab, denn wo wir uns mit Gerda auch aufhielten, wir konnten die Stasileute quasi riechen. Zu Hause sprach Jo kaum über die ständigen Rückfragen der Stasi zu geplanten Tagesabläufen und wenn, dann stellte er das Radio lauter. Keiner war sich sicher, ob die Wände nicht doch Ohren hatten. Gab es entscheidende Probleme zu besprechen, so gingen Jo und Gerda immer „frische Luft schnappen“. An den Elbwiesen hielt sich im Winter kaum jemand auf, da hätte man sehen können, wenn man belauscht würde. Oft wurden die angeblich geplanten Tagesabläufe von uns absichtlich kurzfristig geändert und Jo handelte sich Vorwürfe ein. Doch er konnte sich da gut herausreden, die Schwester sei volljährig und entscheide selbst, was sie tun und besser lassen wolle. Sie hätte ja auch über seine Berichterstattung nichts wissen dürfen. Einmal jedoch waren wir mit Gerda, der jüngsten Schwester Uschi und einem befreundeten Ehepaar, welches informiert war, in der Mazurka Bar, unserer Stamm-Bar auf der Prager Straße, tanzen. Wir kannten den Restaurantleiter gut und er hatte immer ein paar Plätze für uns. Als er uns begrüßte, sagte er nur kurz, dass DIE, damit war die Stasi gemeint, heute mit einer auffällig großen Mannschaft angerückt seien. Jo und unserer Freund schirmten Gerda so gut ab, dass sie schon immer zum Tanzen unterwegs war, wenn ein Herr sie auffordern wollte. Wir drei anderen Frauen tanzten des Öfteren mit einem der durchweg gut aussehenden netten Herren, die an diesem Abend zahlreich solo anwesend waren. Üblicherweise war hier eher Pärchenbetrieb. Gerda hatte ein kleines Plastikmännchen mitgebracht. Es war ein runder Kopf mit einer Indianerfeder, der durch eine Sprungfeder verbunden in einer Halbkugel mit Beinen steckte. Wenn man den Kopf oben antippte, bewegte er sich hoch und runter. Dabei gab es Laute von sich, als ob es lache, ein „Lachemännchen“ also. Wir tanzten um das Männlein herum und es begleitete uns auch an die Bar. Alle hatten eine Mordsstimmung und es war insgesamt ein wunderschöner Abend. Eigentlich hätten wir ganz froh über den Ausgang des Abends sein können, denn es war den Stasileuten nicht gelungen, an Gerda heranzukommen.
Aber… Es war uns nicht nur entgangen, dass das Lachemännchen verschwunden war, sondern auch, dass Uschi mehrere Tänze mit ein und demselben Herrn getanzt und ihm ihre Telefonnummer mitgeteilt hatte. Dieser Herr hatte dann am nächsten Tag unter dem Vorwand, das Lachemännlein zurückgeben zu wollen, ein Rendezvous mit Uschi vereinbart. Er hatte wohl auch die Figur wieder mitgebracht, aber sie hatte leider ihre Funktion verloren. Was wohl die Stasi in ihm vermutet hatte? Auf jeden Fall war es den „Fachleuten“ nicht gelungen, das Männlein wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. Als wir etwas von der Geschichte mitbekamen, war es schon zu spät. Uschi hatte sich bereits mehrmals mit dem Typen getroffen und sich unsterblich in ihn verliebt. Man sagt nicht umsonst, dass Liebe blind mache. Sie weigerte sich, ihn aufzugeben. Das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Normalerweise hätte auch sie erkennen können, dass er bereits begonnen hatte, Fragen zu stellen, auf die ein echter Liebhaber niemals käme. Typisch für die Stasihelden, sich immer an das schwächste Glied heranzumachen.
Jo sprach ein Machtwort. Ob sie uns alle vernichten wolle! Es gab Krach in der Familie.
Gerda konnte sich mit der Situation nicht abfinden. Sie sei ein freier Mensch. So zog sie es vor, baldmöglichst abzureisen. Der Zweck ihrer Reise, ihre todkranke Mutter noch einmal zu sehen, war erfüllt. Bei einer Nacht- und Nebelaktion brachte Jo sie in den ersten Januartagen wieder nach Berlin. Der Zwangsumtausch für die restlichen zehn Tage war verfallen.
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