Taxitänzer sind in der Regel gute Tangueros bzw. gute Tangueras , einige unter ihnen sogar sehr, sehr gute. Einer von ihnen war Luis , Argentinier, den ich in Buenos Aires kennen lernte. Der Typ tanzte wie ein Wirbelsturm, er war ein wirklich außerordentlicher Tangotänzer. Ich wunderte mich, warum um Gottes Willen er als Taxitänzer arbeiten müsse. Ich fand ihn einfach zu gut dafür. Zwei Jahre später traf ich ihn in Moskau wieder. Dieses Mal als Tangolehrer. Als Taxitänzer lernte er eine Tangolehrerin und Organisatorin von Milongas aus Moskau kennen. Diese Bekanntschaft führte zu einer Einladung, mit der Dame einen Monat in Moskau zu unterrichten. Später zog er sogar nach Russland, heiratete und ist heutzutage als anerkannter Maestro auf Tourneen durch das ganze Land unterwegs. Mittlerweile war er sogar bereits zweimal in Folge Finalist bei den Tango-Weltmeisterschaften in Buenos Aires, dem sog. Festival y Mundial de Tango . Ja, auch ein Taxitänzer kann Geschichte schreiben.
Ich stellte also fest, dass man als Tourist in Buenos Aires Einheimischen begegnet, die Tangueras und Tangueros – Taxitänzer und Maestros – sind. Das sind jene Menschen, die einen mit offenen Armen empfangen . Auch luxuriöse Hotels und Restaurants, die keinen Gourmet-Wunsch offen lassen, freuen sich über den Besuch von Touristen. Man kann ausgezeichnet essen und trinken. Gut gekühlter Champagner fließt in Kristallgläsern, wenn man sich das leisten kann. Auch richtige Taxis der Marke Mercedes heißen dich willkommen, um dich von dem einen Maestro zum anderen zu fahren, oder zur Milonga. Geschäfte mit Tanzausstattung. Hauseigentümer, die Tanzräume zu Stundensätzen vermieten. Einen Tanzraum kann man sich für die eigene Privatstunde mit dem Lehrer in Häusern, Wohnblocks, Wohnungen mieten. Manch ein Vermieter wird nur die Möbel etwas auseinander rücken und die freigeräumten Quadratmeter für die Privatstunde zur Verfügung stellen. Oder nur ein halbes Zimmer. Manchmal hat man Glück und der gewünschte Maestro höchstpersönlich wird bei sich zu Hause die Möbel zur Seite schieben, den Teppich zurückrollen, um mit dir die Privatstunde durchführen zu können. Dann braucht man keine Miete zu bezahlen.
Etwas anders gestaltet sich die Sache, wenn man eine Milonga erleben möchte, wo Einheimische tanzen, für die der Tango keinen Verdienst darstellt. Da ich diesen ursprünglichen Tango, den von den Einheimischen getanzten Tanz kennenlernen wollte, ließ ich nichts unversucht, um dem Tango auf den Grund zu kommen. Erst in Buenos Aires stellte ich fest, dass die Einheimischen den Tango eifersüchtig bei sich halten und ihn nicht mit dem Tourismus infizieren möchten. Sie nennen diese Milongas traditionelle Milongas . Dort gibt es keine Abweichungen von den strengen Tangoregeln, den Códigos . Wenn man sich auf einer solchen orthodoxen Milonga einfindet, wird man um ein Jahrhundert zurückversetzt. Erst auf den traditionellen Milongas verstand ich, im wahrsten Sinne des Wortes, wie viele Überlegungen darin investiert wurden, um die Würde jedes einzelnen Menschen, der den Tanzabend besuchte, zu bewahren. Man verständigt sich wortlos und wahrt das Gesicht. So konnte ich – und werden alle Besucher – diesen Ort des Tangoursprungs erleben: einen sehr diskreten, intimen Ort eines angenehmen Beisammenseins. Die Tanzaufforderung erfolgt nur mittels Mirada und Cabeceo . Spricht man als Mann eine Frau an und fordert sie zum Tanz auf, zieht man sich wortwörtlich selbst aus dem Verkehr, und man kann dann warten, bis einem ein langer Bart wächst. Die Chancen nach diesem Fauxpas, eine Tanda zu bekommen, liegen bei null.
Ich hatte zwar darüber gelesen, glauben konnte ich es aber erst, als ich mich mit meinen Augen selbst davon überzeugen konnte: Frauen sitzen auf der traditionellen Milonga auf der einen Seite der Tanzfläche, Männer auf der gegenüberliegenden. Als ich den Raum einer solchen traditionellen Milonga betrat, konnte ich nicht verbergen, dass ich Tourist war. Auch wies mir der Organisator einen ziemlich ungünstigen Platz zu, wodurch ich mich zusätzlich als Tourist outete . Ja, in Buenos Aires muss man sich sogar einen guten Sitzplatz erarbeiten. Erst nachdem man sich als guter Tanguero auf der Tanzfläche bewiesen hat, wird man an einen besseren Platz versetzt. Ich hätte das nie geglaubt, wenn ich das nicht am eigenen Körper erlebt hätte.
Vielleicht sehe ich nicht auf den ersten Blick wie ein Russe aus; sicherlich gelte ich aber als großer Mann mit hellem Haar, der auch als Deutscher, Norweger, Engländer oder Pole durchgehen könnte. Auf jeden Fall ähnelt mein Äußeres keinesfalls dem Äußeren eines kleinen, dunkelhaarigen Argentiniers. Eine Gelegenheit zum Tanzen bekam ich weder auf dem ersten, noch auf dem zweiten, nicht einmal auf dem dritten Besuch. Enttäuscht war ich schon. Ich hatte doch bereits 3 Jahre Tango gelernt. Aber keine der Einheimischen wollte mit mir, einem Touristen tanzen, denn eine argentinische Tanguera ist in größtem Maße davon überzeugt, dass Touristen nicht tanzen können. Dass sie den Tango nicht verstehen, denn für sie gibt es keinen Tango außerhalb Argentiniens. Es stimmt, dass die Einheimischen eine sprichwörtliche Verachtung gegenüber allen hegen, die sich in den Tango verliebten, ohne ihn – deren Überzeugung nach – leben zu können, denn uns Europäern sei der Tango nicht in die Wiege gelegt worden. Irgendwie spürte ich diesen stillen Widerstand und respektierte ihn. Es blieb mir ja nichts anderes übrig. Ich musste ihn respektieren. Ich verstand, dass die Argentinier ihre Überlieferung in einer verborgenen Schublade in deren Urform bewahren möchten. Wie eine Großmutter, die den versteckten die Erinnerung an ihre große Liebe wachrüttelnden, schon etwas vergilbten Brief eines Liebhabers aus jungen Jahren gefühlvoll zweimal jährlich in ihre zarten Hände nimmt und darüber streichelt, den Brief eines Jünglings, der bereits seit langem am anderen Ende der Welt selbst von Enkelkindern umgeben ist; diesen Liebesbrief, der noch immer das Herz erwärmt, und das Auge belebt, manchmal mit einer Träne, ein anderes Mal mit einem Funken wie damals, als die Schmetterlinge im Bauch noch frisch und munter waren.
Tief in meinem Innern bin ich überzeugt davon, dass der Tango mit all seiner Tiefe auch von einem Deutschen, Österreicher, Schweizer, Briten oder Russen gefühlt werden kann. Und auch von einem Maori, Lappen, Papua. Ich bin überzeugt davon, dass sogar ein Spartaner den Tango fühlen würde, und auch Tutanchamun Tango hätte tanzen können, wenn er einen guten Tangolehrer engagiert hätte, mit dem der Pharao vor dem frühen Ableben schnell hätte lernen können.
Ich denke, jeder Mensch kann sich im Tango niederlassen, überall und jederzeit, denn jeder sucht im Tango seinen Sinn, seine Poesie, seine Herausforderung. Letztendlich entstand er unter Menschen aus aller Welt, unter den Zuwanderern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in den tristen Nächten ihres einstigen Traumlandes eine Erlösung von den schweren Tagen in Argentinien suchten.
Den Tango betritt man wie eine Schachpartie. Man betritt eine parallele Welt, die sich in derselben Zeit und in demselben Raum des Alltags abspielt. Innerhalb dieser Realität bleibt die Welt draußen unverändert und wartet auf dich, bis du in diese zurückkehrst. In der Zwischenzeit wirst du innerhalb des Tangos von Energiewirbeln getragen, einige Augenblicke lang wirst du zu ein und demselben pochenden Herz mit allem, was ist, was war und was sein wird. Ein zeitloser Augenblick. Ich würde mir eine Knochenarbeit auferlegen, wenn ich der Zeitlosigkeit eine Ursprungsbezeichnung aufsetzen wollte.
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