„Das stimmt, Mylady. Lionel. Er war unserem Vater sehr ähnlich und ebenfalls vom Spiel besessen. Eines Tages hat er sich mit jemandem darüber gestritten, ob die Karten gezinkt oder die Würfel beschwert waren – genau weiß ich es nicht – jedenfalls fühlte sich der andere beleidigt und forderte ihn. Er war dann wohl auch der bessere Schütze – oder Lionel hatte von den durchspielten und durchzechten Nächten keine ruhige Hand, jedenfalls hat der andere ihn erschossen. Ich glaube, das hat meinen Vater dann endgültig in die Besessenheit getrieben. Vielleicht verständlich.“
„Findest du, Kindchen?“
„Nun, er hatte keinen Erben mehr – wozu dann das Erbe erhalten?“
„Väter, die sich nicht um ihre Töchter kümmern, waren mir schon immer ein Gräuel“, verkündete Lady Brincknell. „Du hättest Anspruch auf eine anständige Mitgift und ein angemessenes Debüt in der Gesellschaft gehabt. Zwei, drei Saisons – und du wärst jetzt sehr angenehm verheiratet. Aber solche Rabenväter sind nicht allzu selten. Auch deshalb ist es mir ein Bedürfnis, dich angemessen zu präsentieren – von dem Spaß, den mir das ganze Drumherum macht, ganz zu schweigen.“
„Das freut mich natürlich, Mylady, aber bedenken Sie doch – die Kosten!“
„Papperlapapp, Helen, du weißt ja gar nicht, wie wohlhabend ich bin. Das spüre ich gar nicht.“
„Nun ja – aber Sie haben doch bestimmt Verwandte, die Ihnen das übelnehmen? Weil sie finden, dass das Geld doch wohl eher ihnen zugutekommen sollte.“
„Höchstens mein Neffe Neville. Sir Neville Anscott. Ein eher unangenehmer junger Mann. Mein Bruder hatte zunächst zwei Töchter, bevor dann seine zweite Frau endlich einen Sohn zustande gebracht hat. Der Kleine wurde von der Wiege an schandbar verzogen, so dass er heute glaubt, die ganze Welt sei nur zu seinem Vergnügen da. Er missgönnt jedem Menschen Geld, das er selbst gerne hätte. Mach dir nur keine Gedanken darüber!“
Helen seufzte. Diese kurze Pause ermöglichte es Mylady, sich an ihr eigentliches Anliegen zu erinnern: „Du musst schnell tanzen lernen. Wenigstens das Nötigste. Und den Walzer. Du bist nämlich eindeutig zu alt, um dich dem Walzer zu verweigern.“ Sie klingelte und bat den Butler, ihr ihren Sekretär zu schicken.
Einige Momente später verbeugte sich ein bebrillter junger Mann, der, sobald er sich wieder aufgerichtet hatte, Helen einen misstrauischen Blick zuwarf.
„Mr. Snettham, bitte bestellen Sie Monsieur Caron für morgen Vormittag hierher, sagen wir, um elf. Und Sie werden sich morgen bitte zur gleichen Zeit zur Verfügung halten, um Lady Helen als Übungspartner zu dienen.“
„Ich bitte um Verzeihung, Mylady?“
„Sie haben mich schon verstanden, und dabei bricht Ihnen auch kein Zacken aus der Krone.“
Er ließ einen Blick über Helens altes graues Kleid wandern, als sei er nicht ganz sicher, dass er sich da nicht Ungeziefer einfangen würde. Helen hob unmutig den Kopf, worauf er seinen Blick abwandte. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Ein Sekretär war ja wohl auch nichts Besseres als eine Gouvernante!
„Ich werde M. Caron für morgen elf Uhr bestellen, Mylady“, antwortete er artig. „Haben Sie noch weitere Befehle?“
„Nein, Mr. Snettham, vielen Dank.“
„Ich glaube, er ist mit meiner Anwesenheit nicht einverstanden, Mylady“, meinte Helen bedrückt. Das würde ihre Anwesenheit in diesem Hause nicht gerade erleichtern.
„Unsinn, Kindchen. Er hat hier doch gar nichts zu sagen. Ich glaube, ihm gefiel nur dieses Kleid nicht. Mir auch nicht, wenn ich es mir recht betrachte.“
„Mir ebenso wenig“, gab Helen zu. „Von meinen vier Kleidern war es noch das präsentabelste. Aber ich werde es mit Vergnügen waschen und den Armen spenden und eins der neuen Gewänder anziehen.“
„Am besten gleich. Jenny und die Mädchen sollen dir ein Bad richten, Jenny wird dir auch die Haare waschen und sie modisch schneiden. Und dann ziehst du bitte das Lavendelfarbene an. Im Lauf der Zeit lassen wir sicher auch einiges für dich anfertigen, aber vorerst bin ich recht froh, dass dir so viel Fertiges wie angegossen gepasst hat. Hinauf mit dir!“
Helen entfloh, halb erleichtert, halb verschreckt.
In ihrem Schlafzimmer hatte Jenny bereits die zauberhaften Kreationen von Madame Lafleur aufgehängt und zurechtgezupft und alles Zubehör auf der Kommode aufgereiht. Vor dem Kaminfeuer wurde eine Wanne aufgestellt und mehrere Zimmermädchen traten mit Kannen voll heißen Wassers an, während Jenny selbst Seife, Bürste und Handtücher bereitlegte.
Sobald die Wanne wohlgefüllt war, half Jenny Helen dabei, das hässliche graue Kleid abzulegen. Auch die schäbige Unterwäsche, für die Helen sich schon bei der Schneiderin geniert hatte, verschwand, und Helen stieg vorsichtig in das heiße Wasser.
Herrlich!
Und Jenny wusch sie vorsichtig, schäumte ihr auch die langen dunklen Locken ein, hieß sie untertauchen, massierte ihre Gliedmaßen mit der Bürste, bis die Haut ganz weich war, und hüllte sie schließlich, als sie sich aus dem Bade wieder erhoben hatte, in weiche Tücher.
Helen, immer noch in schneeweißes Leinen gewickelt, nahm vor ihrem Toilettentisch Platz, und Jenny begann, die langen Flechten auszukämmen.
„Sie haben sehr schönes Haar, Mylady“, lobte sie.
„Tatsächlich? Ich habe es zu Hause eigentlich stets nur geflochten und unter ein Häubchen gestopft, damit es mich bei der Arbeit nicht störte. Was kann man damit anfangen?“
„Nun, es lockt sich sehr hübsch. Wir werden es ein wenig stutzen und dann zu einem lockeren Knoten aufstecken, aus dem einzelne Löckchen hervorlugen. So etwas gefällt den Herren, vertrauen Sie mir.“
„Ich gebe mich ganz in deine Hände, Jenny“, antwortete Helen friedlich und schloss die Augen, während die nassen Strähnen sorgfältig gekämmt und geschnitten wurden. Das leichte Ziehen und das leise Quietschen der Schere wirkten allmählich einschläfernd, so dass Helen erschrocken hochfuhr, als Jenny ausrief: „So, fertig! Sind Sie zufrieden, Mylady?“
Helen erkannte sich kaum wieder – die nur noch leicht feuchten Haare ringelten sich in unterschiedlicher Länge sehr ansprechend um ihr Gesicht und ihren Hals. Jenny steckte die Hauptmasse zu dem versprochenen Knoten auf, zupfte den Rest noch besser zurecht und verkündete dann: „So etwa hat Lady Brincknell es sich vorgestellt, glaube ich. Und jetzt ziehen wir Sie noch an.“
Helen wurde mit hauchdünnen Strümpfen, neckischen Strumpfbändern, Unterkleidern und dem lavendelfarbenen Tageskleid ausgestattet. Als letztes steckte Jenny ihr ein Paar leichte Schuhe an die Füße und zog Helen dann vor den großen Spiegel.
„Unglaublich“, hauchte Helen. „Jenny, du hast ein Wunder vollbracht! Jetzt kann ich mir tatsächlich vorstellen, mit Mylady auszufahren und ihr dabei keine Schande zu bereiten.“
Jenny legte den Kopf schief. „Etwas fehlt noch… entschuldigen Sie mich einen Moment?“
Sie enteilte und kehrte im Handumdrehen zurück, eine blassblaue Wollstola in der Hand. „Lady Brincknell hat mir erlaubt, sie zu nehmen. Hier – damit brauchen Sie im Park nicht einmal einen Mantel. Es wäre ja auch schade, wenn man das neue Kleid nicht sehen könnte!“
Auf dem Weg nach unten in den Salon begegneten sie Mr. Snettham, der verblüfft blinzelte. Helen neigte hoheitsvoll den Kopf, murmelte nur „Mr. Snettham“, und schritt weiter die Treppen hinab.
Jenny hinter ihr kicherte leise.
Lady Brincknell war so begeistert, wie Jenny es prophezeit hatte. „So, Kindchen, jetzt werden wir erst einmal etwas essen, dann liest du mir etwas vor und nach dem Tee fahren wir eine Runde durch den Park und lassen die feine Gesellschaft rätseln, wen die verrückte Brincknell da wieder bei sich hat."
Helen musste lachen. „Wieder? Präsentieren Sie der Gesellschaft öfter solche zufälligen – äh – Schützlinge?“
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