Ein Hinweisschild wies den Weg zum südlichen Abfahrtsbereich. Gleis 21, so hatte ihn der Schaffner bereits im Zug informiert. Dort bestehe Anschluss zur Weiterfahrt mit dem örtlichen Schienenbus, Richtung Prödel Land. Durch eine zugige, in Eidotter-gelb ausgekachelte Unterführung erreichte Schmaedeke, tote Katzenkadaver und Pisslachen mit seinem Rollkoffer ausweichend, den abgelegenen Gleisabschnitt. „So ne´ widerliche Schweinerei hier“, empörte er sich innerlich. „Wo bin ich denn hier bloß gelandet?“ Rostige Stahlträger überragten den Aufgang zu dem abgelegenen Nebengleis, auf den der Jungmanager seinen Koffer die steilen Treppenstufen hinauf wuchtete. Als Schmaedeke auf der Plattform angekommen sich den Schweiß von seiner Stirn wischte, sah er einen schwarzen Raben, wie er über den regennassen Bahnsteig hüpfte. Von dem Neuankömmling mit dem ungelenken Rollkoffer gestört, flog der Rabe in den Wolken verhangenen Himmel auf und stieß einige krähende Laute aus. Von dem Vogel abgesehen, erschien Schmaedeke der Bahnsteig auf den ersten Eindruck völlig ausgestorben. Erst auf den zweiten Blick entdeckte er am hintersten Ende des Gleises ein merkwürdiges Zwitterwesen, halb Bus halb Zug, dessen Achsen fest auf den Gleisen verankert waren und dessen Motor bereits im Stand warm lief. Von den Einheimischen wurde das knallrot gehaltene Gefährt auch Ferkeltaxe genannt, wie Schmaedeke bereits erstaunt im Gespräch mit dem Schaffner erfahren hatte. Je näher der westdeutsche Jungmanager dem Gefährt kam, desto lauter wurde das Motorengeräusch, das seinen Schritt weiter beschleunigte. Und tatsächlich, kaum hatte Schmaedeke den Schienenbus erreicht, da kündigte bereits eine sächsisch-eingefärbte Stimme resolut über Lautsprecher die anstehende Abfahrt an: „Bitte eensteigchen an Gleis eenzwanzsch! Schienenbus nach Prödel Land!! Mit Halt in Gübs, Gommern, Prödel, Güterglück und Krötzenbroda“.
Ein lauter Pfiff erklang. Gerade gelang es v. Schmaedeke noch seinen Rollkoffer ins Innere zu ziehen, schon setzte sich das altertümliche Gefährt schwankend in Bewegung. Erschöpft sank der Reisende auf eine Sitzbank. Mit müdem Blick bekam er noch mit, wie der Schienenbus die alte Hubbrücke über die Elbe überquerte, da fielen ihm auch schon die Augen zu. Nach durch gearbeiteter Nacht ergab sich der bis in die Haarspitzen motivierte Jungmanager einem süßen, erholsamen Schlaf. Wie lange dieser gedauert haben mag, hätte er später nicht mehr zu sagen vermocht. Waren es bloß wenige Minuten oder gar Stunden? Clemens v. Schmaedeke zumindest kam es später vor wie eine halbe Ewigkeit. Weder bekam er mit, wie sich das Grün der Umgebung immer mehr in ein alles übertönendes Grau verflüchtigte noch sah er, wie der Bus in rasch wechselnder Folge verfallene Bahnhöfe passierte, auf denen Transparente die Reisenden mit der heiteren Aufschrift „Willkommen in der neuen Zeit“ auf ergreifende Veränderungen einstimmten, von denen er in diesem Moment noch nicht im geringsten ahnte, dass sie auch noch einmal ihn betreffen sollten. Umso jäher war sein Erwachen, als eine fremde Hand mit einem Male unsanft seine Schulter ergriff und jemand ihn in sächsischer Mundart anherrschte:
Foahrkartenkontrolle! Zeischen se mal bidde Ihre Foahrkarte“. Noch halb benommen, griff Schmaedeke in die Innentasche seiner Jacke, zog seinen Fahrschein hervor, der mit missbilligenden Blick von einer älteren Schaffnerin in feldgrauer Uniform überprüft wurde. Kaum war sie zu den letzten Reisenden im hinteren Teil des Busses enteilt, tauchten zwei uniformierte Männer mit Maschinengewehren auf, die sich bedrohlich vor Schmaedeke aufbauten. Der immer noch schlaftrunkene Jungmanager blickte verwundert auf die militärisch erscheinenden blauen Uniformen, als er mit Fingerzeig auf die neben ihm liegenden Zeitungen angesprochen wurde. „Transportpolizei. TRAPO. Tach. Was haben wir denn da? Was machen denn diese westlichen Presseerzeugnisse bei uns? Wissen Sie denn nicht, dass das nicht geht?! Führen Sie weitere Druckerzeugnisse, Romane, Prospekte, Kalender mit sich?“
„Nein, sonst gar nichts“, antwortete Schmaedeke.
„Wir konfiszieren die jetzt, und seien Sie froh, dass wir keine Meldung machen“. Erstaunt sah Schmaedeke zu, wie die Männer die zerlesene „Bild-Zeitung“ und sein fast unberührtes „Handelsblatt“ mitnahmen.
Derweil hatte der Schienenbus sein Ziel erreicht. Clemens v. Schmaedeke streckte sich benommen, griff sich kopfschüttelnd an den Nacken und blickte aus dem Fenster: „Willkommen in der neuen Zeit“, war das erste, was er auf dem Transparent an der baufälligen Bahnhofshalle über dem Schild von Krötzenbroda erblickte. In der dunklen backsteinernen Halle des Bahnhofs herrschte wenig Betrieb. Das blind erscheinende Fenster des einzigen Fahrkartenschalters schien unbesetzt. Auf dem Boden wehte der Wind vergilbte Zeitungsblätter herum. Alleine in einer Gastwirtschaft im seitlichen Anbau des Gebäudes erblickte Schmaedeke durch eine offen stehende Tür vor dem Tresen einige Männer in weißen Feinripp-Unterhemden mit halb vollen Biergläsern in der Hand. Unbemerkt von ihnen trottete v. Schmaedeke, seinem Rollkoffer klackernd hinter sich herziehend, durch das verlassene Gebäude und trat blinzelnd auf den Bahnhofvorplatz. Von der Sonne geblendet hielt er sich schützend die Hände über die Augen. Die unbelebte Bahnhofstraße schien geradewegs in den Ortskern von Krötzenbroda zu führen. Voll unbestimmten Tatendrangs schlug Clemens v. Schmaedeke ohne einen Moment zu zögern diesen Weg ein. Auf einer Rasenfläche links vor dem Bahnhof fiel ihm noch ein merkwürdiges Gebilde auf einem Betonpodest auf. Wie er von Nahem entdeckte, war es eine stillgelegte Grubenbahn, die auf einem verrosteten Schmalspurgleis ruhte. Schmaedeke blieb stehen und betrachtete das fremdartige Modell. Eine Ural 53er, verkündete stolz die auf dem Sockel angebrachte Bronzetafel. Trotz angelaufener Schrift war darauf immer noch deutlich zu erkennen: "Zur Erinnerung an Adolf Hennecke, der 1948 im Karl-Liebknecht-Schacht die sozialistische Norm um 387 Prozent übererfüllte“. Das waren noch Zeiten, dachte der Business-School-Absolvent auf dem Weg ins Zentrum. Vorbei an Geschäften des alltäglichen Bedarfs mit Schaufensterdekorationen, in denen sich nichts weiter als altmodische Stapel von Zuckerwürfeln, Kartoffelstärke und Knödelpackungen befanden, die Schmaedeke anders als die wenigen Einheimischen, denen er begegnete, kaum eines Blickes würdigte, bewegte sich der Neuankömmling unbeirrt zum Zentrum Krötzenbrodas fort. Die Ortsansässigen jedoch nahmen an der angebotenen Warenwelt deutlich mehr Interesse als der soeben angekommene westdeutsche Jungmanager. Rieben sie sich doch, so schien es Schmaedeke, an den Fensterdekorationen geradezu ihre Nasen platt, und auch in den Geschäften herrschte vor der Kasse reger Andrang. Nach etwa zehn Minuten Fußweges kam Clemens v. Schmaedeke auf den Marktplatz von Krötzenbroda an. Ebenso wie die Häuser auf dem Weg war auch das Zentrum des Ortes in ein trübes Grau gehüllt; von den maroden Fassaden der Häuser bröckelte der Putz. Ab und an knatterten, ohne sich weiter an ihm zu stören, über den verwaisten Dorfplatz alte Trabbis an Schmaedeke vorbei. Von einem Hotel weit und breit keine Spur. Auf der Höhe des Schaufensters eines Konsumladens, der offenbar auf Eierteigwaren zu 1.20 spezialisiert war, so turmhoch reichte der Stapel der leicht angestaubten Packungen, blieb Schmaedeke stehen. Bot das Geschäft außer Eierteig sonst auch nur wenig an, so war doch zumindest sein Schaufenster spiegelblank geputzt. Schmaedeke nutze die Gelegenheit, sich nach der langen Reise das Haar nach zu gelen. Als er einen aus dem Laden tretenden Kunden sah, sprach er ihn an: „Entschuldigen Sie. Ich bin gerade angekommen. Wo ist denn hier das nächste Hotel?“
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