Hans Fallada - Süßmilch spricht

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Mit Vater wurde es immer schlimmer.
Wenn Mutter ihn bat: «Mann, gib mir doch mal die Kartoffeln herüber», so sagte Vater eifrig: «Aber gewiß doch!» starrte über den Tisch und reichte Pfeffer und Salz.
Und wenn ich von Vater fünfhundert Mark für ein paar Schulhefte verlangte (denn wir standen erst im Anfang der Inflation, und Sachen kosteten nur lumpige Hunderter, die in Kürze Millionen und Milliarden kosten sollten), so sah er mich zornig an und sagte: «Ich lasse mir das nicht von euch gefallen! Es ist glatter Diebstahl!»
Kurz, Vater lebte nicht mehr mit uns, seiner angestammten Familie, sondern in einer fremden Welt, von der er uns durchaus nichts erzählen wollte.
"Sieh du doch mal, daß du ihn zum Sprechen bringst, Maxe", bat Mutter mich oft. «Wenn der Mann sich doch nur mal aussprechen würde! Die Sorgen drücken ihm noch das Herz ab! Sicher ist es was mit der Fabrik!»
Aber auch mir gegenüber hielt Vater dicht wie ein neuer Gummimantel, und setzte ich ihm einmal gar zu sehr zu, so sagte er bloß: «Ich weiß nicht, was du willst, Maxe! Ein verlorener Krieg und 'ne verlorene Revolution und 'ne Inflation und Bruderkampf – ist dir das noch nicht genug, daß ein Mann Sorgen hat?! Du bist ja komisch, Maxe!»
Eigentlich hatte der Vater damit recht, Grund zum Kummer hatte jeder in Deutschland und ganz besonders in Berlin, wo wir jeden Dreck frisch vom Faß bekamen, genug, und doch waren Mutter und ich fest überzeugt, daß Vater außer dem großen allgemeinen Kummer noch seinen Privatkummer hatte – über den er doch durchaus nicht sprechen wollte. Eines Morgens aber paßte es so, daß wir in der Penne schulfrei hatten. Ich weiß nicht mehr genau, warum, wahrscheinlich streikte der Schuldiener mal wieder – von wegen Gehaltsaufbesserung und so. Das machte der ehrliche Alte öfter in jenen Tagen, dann heizte er einfach nicht oder ›verlegte‹ den Schlüssel zum Schultor oder brachte den Klingelkontakt in Unordnung, daß die Pausenklingel eine Stunde hintereinander schrillte – na, von …

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Hans Fallada SÜSSMILCH SPRICHT Ein Abenteuer von Murr und Maxe

1

Vaters Geheimnis

Mit Vater wurde es immer schlimmer.

Wenn Mutter ihn bat: »Mann, gib mir doch mal die Kartoffeln herüber«, so sagte Vater eifrig: »Aber gewiß doch!« starrte über den Tisch und reichte Pfeffer und Salz.

Und wenn ich von Vater fünfhundert Mark für ein paar Schulhefte verlangte (denn wir standen erst im Anfang der Inflation, und Sachen kosteten nur lumpige Hunderter, die in Kürze Millionen und Milliarden kosten sollten), so sah er mich zornig an und sagte: »Ich lasse mir das nicht von euch gefallen! Es ist glatter Diebstahl!«

Kurz, Vater lebte nicht mehr mit uns, seiner angestammten Familie, sondern in einer fremden Welt, von der er uns durchaus nichts erzählen wollte.

»Sieh du doch mal, daß du ihn zum Sprechen bringst, Maxe«, bat Mutter mich oft. »Wenn der Mann sich doch nur mal aussprechen würde! Die Sorgen drücken ihm noch das Herz ab! Sicher ist es was mit der Fabrik!«

Aber auch mir gegenüber hielt Vater dicht wie ein neuer Gummimantel, und setzte ich ihm einmal gar zu sehr zu, so sagte er bloß: »Ich weiß nicht, was du willst, Maxe! Ein verlorener Krieg und ’ne verlorene Revolution und ’ne Inflation und Bruderkampf – ist dir das noch nicht genug, daß ein Mann Sorgen hat?! Du bist ja komisch, Maxe!«

Eigentlich hatte der Vater damit recht, Grund zum Kummer hatte jeder in Deutschland und ganz besonders in Berlin, wo wir jeden Dreck frisch vom Faß bekamen, genug, und doch waren Mutter und ich fest überzeugt, daß Vater außer dem großen allgemeinen Kummer noch seinen Privatkummer hatte – über den er doch durchaus nicht sprechen wollte. Eines Morgens aber paßte es so, daß wir in der Penne schulfrei hatten. Ich weiß nicht mehr genau, warum, wahrscheinlich streikte der Schuldiener mal wieder – von wegen Gehaltsaufbesserung und so. Das machte der ehrliche Alte öfter in jenen Tagen, dann heizte er einfach nicht oder ›verlegte‹ den Schlüssel zum Schultor oder brachte den Klingelkontakt in Unordnung, daß die Pausenklingel eine Stunde hintereinander schrillte – na, von dem könnte ich auch einiges erzählen, aber das lieber ein andermal.

Jedenfalls hatte ich schulfrei und sagte zu Vater: »Ich bring dich noch bis zu der kleinen Elektrischen.«

Ich sehe uns noch stehen an der Haltestelle im kalten, sprühenden Novemberregen, Vater und mich, und auf die Elektrische lauern. Noch eine ganze Menge andere halfen uns beim Warten; manche schimpften, weil die Bahn nicht kam, die meisten aber hatten nur verbissen böse Gesichter.

Schließlich sagte Vater zu mir: »Es hilft nichts, Maxe. Die streiken wohl auch mal wieder, und wir gehen besser zu Fuß. Kommst du ein Stück mit?«

Wir gingen miteinander durch die kalten, verdreckten Straßen, zwischen den Menschen, die alle böse oder verzweifelt aussahen, und ganz plötzlich blieb Vater stehen, faßte mich vorne an der Jacke und sagte: »Maxe! Maxe«, sagte er, und sein Kinn wackelt so komisch dabei, »denk dir bloß, morgen früh bin ich meine Fabrik los!«

»Was?!« schrie ich. Es war, als hätte mir einer einen Schlag auf den Magen versetzt. »Das ist doch gar nicht möglich! Deine Fabrik los? Wieso denn?«

»Doch!« sagte Vater und nickte. »Einfach los. Heute gehe ich zum letzten Male hin als Besitzer!« Und schon ruhiger: »Komm, Maxe, machen wir keinen Auflauf. Bring’s Mutter sachte bei, ich habe noch immer das Herz nicht dafür!«

»Alles, was du willst, Vater«, sagte ich. »Aber erst mußt du es mir erklären, ich versteh noch immer kein Wort. Es ist doch deine Fabrik!

Oder? Hast du Schulden, Vater?«

Er schüttelte den Kopf.

»Es ist ganz einfach«, sagte er. »Morgen machen sie eine Versammlung, meine Arbeiter heißt das, und da erklären sie die Fabrik für ihr Eigentum, weil sie doch durch ihre Arbeit existiert, ich aber bin nur ein Kapitalist und Blutsauger. Mich setzen sie ab, ich habe mich bloß an ihnen gemästet. Vielleicht darf ich als ihr Geschäftsführer bleiben, das möchten sie sogar gerne, aber das tu ich nie im Leben! Ich schwöre dir, nie im Leben setze ich wieder einen Fuß über die Schwelle …«

»Vater!« sagte ich beruhigend, aber mir war auch schrecklich angst, wie ich meinen ruhigen Vater in solcher Aufregung sah. »Red doch nicht so was! Soweit ist es doch noch nicht! Geh doch zur Regierung, auf irgendein Ministerium, oder zur Handwerkskammer. Erzähl den Herren doch mal, wie du als Tischlermeister angefangen hast, und wie du zuerst die Fallenfenster gebaut hast! Und wie du dann die Erfindung mit den Bienenkästen machtest, und jeden Pfennig hast du in den Betrieb gesteckt und Maschinen gekauft und das Grundstück für die Fabrik und hast die Fabrik gebaut! Du und ein Kapitalist – das ist doch einfach lächerlich, das sehen die Herren sofort, wenn sie nur einen Blick auf dich werfen.«

»Ich bin doch schon überall gewesen, Maxe«, sagte Vater ganz still. »Aber die hören gar nicht hin. Die sagen: Wenn Ihre Arbeiter so gegen Sie sind, Herr Reichelt, dann wird das schon seinen Grund haben. Behandeln Sie Ihre Arbeiter man anständig. – Ich und meine Arbeiter schlecht behandeln, ich bin doch auch bloß ein Arbeiter!«

»Und warum sind sie so gegen dich, Vater?« fragte ich. »Warum wollen sie so einen Beschluß fassen?«

»Ach, die Leute sind gar nicht so schlecht«, sagte Vater verzweifelt. »Die meisten kennen mich doch schon lange. Aber es sind schlimme Zeiten, sie haben so sehr gehungert, und da ist nun einer, der verspricht ihnen goldene Berge, der sagt, der Gewinn muß in gleiche Teile gehen. Der Reichelt darf nicht mehr verdienen als wir andern, alle müssen gleich verdienen. Und dann schwatzt er ihnen so lange vor, was der Betrieb abwerfen kann, daß sie sich alle schon als reiche Leute sehen …«

»Wer ist denn das, Vater, der die Leute so aufputscht?« fragte ich. »So einen hattest du doch früher nicht im Betrieb?«

»Ach, der ist erst ein Vierteljahr da. Süßmilch heißt er. Wenn der nicht wäre, würden die Leute schon auf mich hören, aber der macht sie rein verrückt mit seinen großen Redensarten.«

»Süßmilch«, sagte ich gedankenvoll. »Der muß ja ein bildschönes Aas sein!«

»Das ist er nicht mal«, sagte Vater mit seinem unbestechlichen Gerechtigkeitssinn. »Wenn er ein Schuft wäre, würde ein ehrlicher Mann schon mit ihm fertig. Aber das ist so ein Fanatiker, der glaubt selbst jedes Wort, das er predigt … Ja, wenn der morgen nicht in der Versammlung wäre! Aber so …«

»Süßmilch!« sagte ich wieder. Ich fand den Namen zu verteufelt für solch einen Kerl. Ich hatte eine wilde Idee, aber davon ließ ich mir nichts merken. Ich sagte bloß ganz sachte: »Wo wohnt denn der, Vater? Ich meine, wie haust denn solch ein Mensch?«

»Ach, das ist doch egal«, sagte Vater bitter. »Er hat, glaube ich, eine Laube in Reinickendorf. Richtig, ›Neue Freiheit‹ heißt die Kolonie. Na, mir bereitet er jedenfalls eine feine neue Freiheit.« Und plötzlich kniff mich Vater in den Arm. »Wenn man den Wolf nennt! Da drüben geht Süßmilch!«

Wir waren jetzt in der Nähe der Fabrik, und so war es schließlich kein großes Wunder, daß wir Herrn Süßmilch zu Gesicht bekamen. Er war ein untersetzter, breitschultriger Mann, mit einem runden, borstigen Schädel, das Gesicht ganz farblos (aber das waren in dieser Elendszeit die meisten Gesichter, das war kein Grund gegen ihn), ein sehr festes Kinn, das er auch noch vorschob, dunkle, ernst blickende Augen, ein schmallippiger Mund …

Ich sah mir den Mann sehr genau an, von dem Vater gesagt hatte, wenn der morgen bloß nicht zur Versammlung käme … Dann sagte ich rasch zu Vater: »Tschüs, Vater, ich hau jetzt ab!«

Denn ich wollte keinesfalls, daß Süßmilch Vater und mich zusammen sah.

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