Vielleicht lieber in Europa bleiben und Spanien erkunden? Die Überschriften und Zahlen in meinem Heft habe ich längst in abstrakte Schnörkel verwandelt, andere tragen nun tintenblaue Tomaten und Bananen anstelle von Fragezeichen, als die freundliche chilenische Spanischlehrerin hinter uns steht und das Ergebnis unserer Partnerarbeit sehen möchte.
Nach dem Sprachkurs gerate ich in den Berufsverkehr, als ich mit der Bahn zu meinem Freund fahren möchte. Ein Ellbogen trifft mich unsanft, ich wanke und schiebe mich an den drei Jugendlichen auf den Stufen vorbei, dann schaffe ich es, im Abteil einen Sitzplatz zu ergattern. Meine Füße quetsche ich übereinander, weil die beiden Frauen, die mir gegenüber sitzen, den Fußraum mit ihren Koffern versperren. Die eine hat ihren Kopf auf den Schultern der anderen abgelegt und zupft nun an ihrer Jacke, um sich besser zuzudecken.
Ich widme mich meinen Spanischvokabeln, dafür sind Bahnfahrten hervorragend geeignet. Jede Sekunde, in der ich warten muss, wiederhole ich einige Worte und lasse meinen Wortschatz langsam wachsen. Plötzlich meine ich, spanische Worte zu hören. Treiben meine Gedanken mich in die Irre? Als ich hochschaue, blicke ich direkt in die dunklen Augen der jungen Frau, die mir gegenüber sitzt. Sie war das!
„De dónde estáis?“, wittere ich meine Chance, noch effizienter Spanisch zu lernen.
„De Colombia!“ Ja, die beiden kommen wirklich aus Lateinamerika, aus der Hauptstadt Bogotá. Mutter und Tochter reisen zusammen, um die zum Studium ausgewanderten Söhne beziehungsweise Brüder zu besuchen. Die junge Frau spricht ein wenig Deutsch, die Mutter ausschließlich Spanisch.
„Unglaublich, dass der Zug so voll ist“, stellen die beiden fest.
„Sonntags fahren alle zurück. Nach Hause. Wie Sie reisen? In Kolumbien?“, frage ich gespannt auf Spanisch.
„Da fährt man Auto, ganz viel mit dem Moped oder man nimmt einen der überfüllten Busse.“ Fahrradfahrer? Fußgänger? „Eher weniger“, erklären sie mir.
„Insgesamt sind wir einen Monat in Europa. Wir waren zuerst in Paris, dann in München, in Köln und nun treffen wir uns in einem kleinen Ort an der Nordsee. Weihnachten feiern wir alle zusammen in Berlin und anschließend geht es noch Richtung Nürnberg“, die junge Frau setzt sich auf.
„Waren Sie Costa Rica? Ähhh, IN Costa Rica?“, platzt es aus mir heraus. Das kleine Land ist von Kolumbien nur durch das angrenzende Panama getrennt.
„Nein, noch nicht. Aber die Menschen dort sprechen sehr schnell!“, sie lachen, ich schließe mich an, was auch immer das bedeutet. Bevor ich in Dortmund aussteigen muss und mich verabschiede, wundern die beiden sich noch über meinen Namen.
„Manuela, das klingt doch eher Spanisch oder…“
„Nicht deutsch! Wegen mein… Name… mich… möchte Spanisch zu lernen!“, antworte ich stolz, bevor ich mich hinaus quetsche. Selbst die stockenden Menschenmassen im Hauptbahnhof können mein Dauergrinsen nicht vertreiben. Das war mein erstes spanisches Gespräch außerhalb der Sprachkurse und es hat funktioniert!
„Oha, in vier Tagen geht's los! Countdown! Wie fühlst du dich?“
Hannahs Augen glitzern im Licht der Tischlampe neben uns. Wir sitzen in diesem kleinen Restaurant in Dortmund. Noch ein letztes Mal wollen wir zusammen in Ruhe essen und reden. Um uns herum klappert Besteck, ein Wein wird eingeschenkt, Nudeln werden serviert und wir machen uns ans Werk. Ich drehe meine Spaghetti im Kreis, bis sie sich um die Gabel winden, nicht mehr fliehen können und ich sie, von roter Sauce getränkt, anhebe.
„Ich bin glücklich, dass es nun endlich los geht. Diese Warterei macht mich fertig“ antworte ich. Ich betrachte die Nudeln, ein Blättchen Petersilie hat sich an die Seite geklebt, als ob es noch mitreisen wollte.
„Hast du deinen Koffer denn fertig gepackt? Wie viel Gepäck darfst du noch mal mitnehmen?“, fragt mich mein Gegenüber und wirft dann einen Blick auf ihre Gnocci Schale. Die kleinen Maden schwimmen in weißem Brei und sind ebenfalls mit den grünen Blättern verziert. Ich rücke auf meinem Stuhl hin und her und denke zum zehnten Mal über meine Packliste nach; bloß nichts vergessen!
„Dreiundzwanzig Kilogramm im Koffer plus zwölf im Handgepäck. Das ist ganz schön wenig. Mein ganzer Besitz für ein halbes Jahr. Und dann habe ich ja auch noch die Fotoausrüstung, Objektive, Laptop und die Festplatte für Backups.“
In der Hansestadt im Norden Deutschlands habe ich Freitag versucht, meinen ganzen Haushalt in einen Koffer zu quetschen. Das Resultat war, dass ich einen dreiunddreißig Kilo schweren Koffer-Schrank plus Rucksack und Tasche mit mir auf die Rückreise nehmen musste.
1 Kilo davon wird die Teekiste beansprucht haben
3 Kilo dürften meine eigenen Fotobücher über Arizona gewogen haben
2 Kilo haben sicherlich meine etlichen Schuhe für jede Wetterlage und zum Sport gewogen.
4 Kilo schiebe ich auf die viel schwerere Winterkleidung, die ich getrost im Winterdeutschland lassen kann
Das waren zehn Kilo zu viel, die ich aussortieren musste. Immer wieder hievte ich also den Koffer auf unsere Personenwage im Badezimmer. Dabei kam ich mir vor wie im Kochkurs: Alles muss gewogen werden und am Ende muss man zwischen den Zutat abwägen, um das perfekte Auslandssemester zu backen.
Die ganze Rechnerei verwirrt mich und auch Hannah scheint mir nicht ganz folgen zu können.
„Fakt ist, dass ich noch besser packen muss.“
„Kannst du nicht einen zweiten Koffer hinzu buchen?“
Ja, können schon, wollen nicht, da hat mich der Ehrgeiz gepackt.
Die Nudeln liegen in unseren Mägen, die Weingläser klingeln. Es ist spät. Wie schnell die Zeit vergeht, wenn man mit guten Freunden spricht. Mitten in der Nacht werde ich nächste Woche in Costa Rica landen. In den USA habe ich gesehen, dass man im Supermarkt ‚Dream Water‘ kaufen kann, quasi ein Schlafmittel, nein, vielmehr ein Traummittel. Vielleicht bleibt man nach der Landung sitzen, träumt von Palmen und verpasst die Chance auszusteigen und die Palmen real zu fühlen. Am Ende reist man zurück, ohne am wahren Strand gewesen zu sein.
Ich werde einige Tipps aus dem Internet befolgen, gemütliche Kleidung tragen, eine leichte Jacke, die man als Decke benutzen kann in das überquellende Handgepäck stopfen, meine Füße in gemütlichen Schuhen versinken lassen, dicke Socken und einen Schal für eisige Zuglüfte einstecken.
Der Tipp, eine leere Wasserflasche durch die Sicherheitsschleuse zu nehmen und diese dann später im Flughafengebäude wieder aufzufüllen, klingt ebenfalls plausibel.
„Sag mal, habt ihr noch Kinderschwimmflügel zu Hause? Du weißt schon, diese orangen Plastikdinger“, frage ich Hannah.
„Ne, wieso?“
„Damit kann man sich ein Kopfkissen basteln. Man bläst sie auf und steckt sie in einen Kissenbezug. Dann kann man das Kissen auf den Klapptisch vor sich legen, es umarmen, den Kopf darauf kuscheln und sich aus dem Flugzeug träumen.“
„Nein, leider nicht. Verrückte Idee!“
Das Internet hat noch einen Rat: Man solle nicht zu viel essen und weder Alkohol noch Koffein trinken.
„Unmöglich!“, Hannah und ich schütteln ungläubig die Köpfe. Man sitzt im fliegenden Restaurant und bekommt Kaffee und Co. serviert. Das lass’ ich mir doch nicht entgehen.
Wir machen uns auf den Heimweg und umarmen uns zum Abschied gefühlt eine Stunde lang. Ob Hannah sich in den sechs Monaten auch verändern wird?
Wir rücken Mütze und Schal zurecht und stapfen in unterschiedliche Richtungen. Ich habe diesen Winter keinen Schnee erlebt, nur Regen und ein klitzekleines bisschen grauen Matsch im Straßengraben. Vierundzwanzig Monate schneelos, das ist wie vierundzwanzig Stunden schlaflos. Irgendwann braucht man ihn, aber gerade bin ich froh, dass es nur regnet.
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