Nichts passiert, nach zwei Minuten drücke ich erneut. Was tue ich, wenn María, meine neue Vermieterin, nicht öffnet? Wie könnte ich wieder zurück zum Hostel kommen? Warum habe ich ihr so sehr vertraut? Ich kenne sie doch gar nicht!
Niemand öffnet.
Ich seufze, dann zücke ich mein Handy und wähle die Nummer, die María mir vorgestern auf einen Zettel gekritzelt hat. Telefonieren auf einer Fremdsprache ist die Königsdisziplin. Es tutet, diesmal nimmt jemand ab. Aus dem Hörer plärrt ein schnelles Spanisch, im Hintergrund höre ich Musik und Stimmen. Ich kann mir die passende Mimik und Gestik zu den Worten nicht vorstellen, deshalb verstehe ich nur die Hälfte. Dann legt sie auf. Sie kommt gleich, glaube ich.
Ich schleife den Koffer an einem Schlagloch vorbei bis an die Wand und setze mich auf das Ungetüm. Für meine nächste längere Reise nach Südamerika werde ich auf einen großen Rucksack umsteigen, der ist handlicher.
Drei Kinder huschen auf Bobbycars vorbei. Zwei junge Männer machen sich an einem Erdberg vor ihrer Haustür zu schaffen und schaufeln dynamisch um die Wette. Gegenüber flattert ein leichter Vorhang, es muss die Zielfahne sein, denn die drei Kinder drehen nun bereits kreischend und lachend die dritte Runde.
Eine Stunde ist seit unserem Gespräch vergangen. Zum Glück ist es in San José ganzjährig recht kühl, sonst würde ich in der prallen Sonne einen Hitzschlag bekommen. Es muss merkwürdig für die Bewohner sein, dass eine Europäerin seit einer Stunde vor dem Haus ihrer Nachbarin sitzt.
Reggaemusik hallt durch die Straße und ein junger Mann fährt in seinem Auto vorbei. Er erreicht schließlich meine Höhe und wird langsamer. Ich meide den Blickkontakt und zum Glück fährt er weiter. Verstohlen schaue ich nun immer öfter auf meine Uhr…
Dann endlich! Ein silberner Geländewagen fährt vor, auf dem Beifahrersitz meine Vermieterin. Sie öffnet per Fernbedienung das Tor und ich folge dem Wagen ins Innere. Hinter uns schließt sich die Metallwand wieder.
„Buenos días, Manuela“, grüßt mich María, als sie aussteigt. Ihre Haare sind streng zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihr rundliches Gesicht zur Eingangstür gerichtet. Wir gehen über den hellen Innenhof und betreten das Haus durch die unverschlossene Tür. Dort stehen drei wuchtige Couchen, deren Lehnen mit edlem dunklem Holz gearbeitet sind, und ein dazu passender Holztisch. Wir stehen im dunklen Wohnzimmer, welches in die Küche übergeht. Einen Flur scheint es nicht zu geben. María und ihre Tochter Patricia haben wegen mir eine Feier verlassen, entnehme ich ihren Worten. Dann stöckelt sie mit ihren schwarzen Lackschuhen über die Fliesen auf mein Zimmer zu und streckt den Arm wegweisend aus: „Ihr Zimmer.“
Ich sehe einen dunkelbraunen Kleiderschrank, einen kleinen Schreibtisch und ein Bett, auf dem fein säuberlich eine helle Decke mit pastellrosa Blümchen und cremefarbener Spitzenkante liegt. Euphorisch lege ich meinen Koffer auf den beige bemusterten Fliesenboden, krame in seinem Innern und verwandle diesen etwa zehn Quadratmeter großen Raum in mein Reich.
Ordnung! Endlich habe ich meine Kleidung, meine Fotoausrüstung und meine Bücher im Blick. Drei Wochen habe ich im Hostel aus dem Koffer gelebt, jetzt weiß ich einen Schrank zu schätzen.
Ich kann María im Erdgeschoss des zweistöckigen Hauses nicht finden. Aber wo finde ich das Bad? Und wo in der Küche darf ich meine Lebensmittel verstauen? Nicht einmal einen Eingangsschlüssel habe ich bekommen. Ich setze mich an meinen Schreibtisch und werfe einen Blick in mein Spanischbuch. Das Rascheln des Papiers, wenn ich eine Seite umschlage, durchschneidet die merkwürdige Stille. Zuerst tippe ich mit dem Stift auf den Tisch, dann schalte ich Musik über mein Smartphone ein. Immer wieder schaue ich durch die Gardine in den steinernen Garten: Dort passiert nichts. Die weißen Mauern, der weiße Betonboden und die drei weißen Badeliegen scheinen miteinander verschmolzen zu sein. Keine einzige Pflanze, lediglich eine Ecke des türkisfarbenen Swimmingpools sehe ich, doch darin befindet sich kein Wasser.
Bis gerade war ich noch permanent umgeben von Backpackern, die mir ihre schillernden Geschichten auf Englisch erzählten und jetzt… Ich schlucke den Kloß herunter und wende mich wieder meiner Lektüre zu, als aus der Küche unverständliche Wortfetzen in mein Zimmer durch die spaltweit geöffnete Tür dringen.
Mein Einsatz! Auf dem Weg zur Küche kommt Monchis auf mich zugelaufen, springt im Kreis um mich herum und beginnt schwanzwedelnd an meiner Hose zu schnuppern. Sie erinnert mich an die eingelaufene Variante eines Dalmatiners.
Die Hosteltiere scheinen eine bleibende Duftnote auf meinem Kleidungsstück hinterlassen zu haben. Ich kraule die Hündin, die sich direkt auf den Rücken wirft und genussvoll quietschend alle Viere in die Höhe strampelt. Von den Damen werde ich nicht beachtet, es fühlt sich so an, als ob ich schon immer hier wohnen würde.
Nicht als Feind, nicht als Freund. Ich bin da, das ist so. Punkt.
Sprache, das sind Buchstaben und Wörter, getrennt von Punkten und Strichen. Jede Sprache hat ihr eigenes Gefühl und ihre eigene Melodie. Ich liebe spanische Musik, besonders wenn ich mich beim Tanzen in eine andere Welt träume und alles um mich herum vergesse. Vielleicht habe ich deshalb beschlossen, Spanisch zu lernen.
Nach Mexiko wollte ich. Der Gedanke, aus dem grau-braun-weißen Ruhrgebiet zu fliehen und in einem vor Sonne, Natur, Licht und Farbe strotzenden Ort Fotografie zu studieren, hat mich motiviert. Einen Teil der Welt verstehen, so lange ich die Möglichkeit dazu habe. Aber leider gibt es die Partnerschaft zwischen meiner Fachhochschule und der Universität in Guadalajara nicht mehr.
Trotzdem sitze ich in Dortmund in der Gesellschaft von zwanzig anderen Studierenden in einem Klassenraum. Die nagelneuen grauen Tische sind groß genug, dass Hannah und ich unsere Schulbücher, Vokabelhefte, Schreibordner und Stifte darauf ausbreiten können. Ich beuge mich nach vorne, schiebe meinen modernen buchefarbenen Stuhl ein Stück zurück und berühre mit meiner Nase fast den Text. Seit einer Minute versuche ich auf Spanisch zu erklären, dass ich gerne zwei Tomaten und drei Bananen kaufen würde.
Hannah schaut mich mit großen Augen an, wirft ihre unendlich langen blonden Haare in den Nacken und bringt dann ein „Usted quiere más?“ hervor.
Ja, mehr Spanisch möchte ich, aber nicht mehr imaginäre Einkäufe! Ich mag ins Land gehen und mich im Tumult auf dem Markt zwischen die Frauen drängen. Dem grauhaarigen Verkäufer, der zum Gruß an seinen Hut tippt, direkt in die tiefschwarzen Augen sehen: „Buenos días, usted tiene dos tomates y tres bananos, por favor?“
„No, gracias! Yo no quiero más“, sage ich stattdessen. Im Anfängerspanischkurs der Uni haben Hannah und ich uns kennengelernt, sind gute Freundinnen geworden und sitzen nun in unserem zweiten dreimonatigen Kurs nebeneinander. Sie lernt Spanisch, um ihre Schulkenntnisse aufzufrischen und vielleicht bei ihrem nächsten Urlaub in Spanien auf Spanisch einen Café im Café ordern zu können.
„Würdest du in Mittelamerika studieren wollen?“, frage ich sie, als sie meine Antwort zur Aufgabe notiert.
„Neee, das ist doch viel zu gefährlich“, entgegnet sie und hält kurz inne, „und die sind doch alle korrupt, die Machos da… Und das ist voll weit weg! Und ein ganzes Semester wär’ mir auch zu lang, so ohne Familie und Freunde und so“, überschlagen sich ihre Argumente. Ich tippe mit dem Füller kleine Punkte auf das Gemälde in meinem Heft. Vielleicht hat sie recht. Vielleicht betrügt mich der Marktverkäufer und steckt mein Geld dreckig lachend ein. Oder ich erreiche den Stand im Gedränge der Menschen gar nicht erst, sodass ich nicht einmal die Chance bekomme, betrogen zu werden. Was wohl schlimmer ist?
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