Die Gruppe setzte sich in Bewegung, der Pfarrer schloss die Tür zur Turmtreppe auf und gemeinsam stiegen sie die ausgetretene steinerne Wendeltreppe hinauf. An der Empore mit der Orgel hielt Meik Schulte kurz inne.
„In welcher Reihenfolge sind Sie denn hochgelaufen? Wer stand direkt beim Opfer?“
„Frau Schneider ist immer vorneweg gelaufen mit den Kindern. Der Chor stellt sich unten schon genauso auf, wie gesungen wird: Sopran eins, Sopran zwei und als letztes der Alt. Wir Bläser sind die Nachhut.“ erklärte Deelke.
„Das heißt, keiner von Ihnen lief unmittelbar hinter Frau Schneider?“ ärgerte sich Schulte.
„Genau.“ erwiderte Deelke schulterzuckend.
Sie stiegen die nächste Wendeltreppe hinauf, gefolgt von einer noch engeren, steilen Holztreppe, vorbei an den Glocken. Schulte hoffte, dass sie nicht anfingen zu läuten. Das Gehölz knarrte bei jedem Schritt und wirkte wenig vertrauenerweckend. Alles war sehr beengt und eindeutig nicht dafür gedacht, von derart vielen Leuten begangen zu werden. Oben öffnete Matthei die kleine Holztür und sie traten hinaus in die Kälte auf die Balustrade. Der Wind pfiff eisig. Schulte war außer Puste.
„Wie kann denn eine Dreiundsiebzigjährige hier hochsteigen, ohne auf dem letzten Loch zu pfeifen?“ echauffierte er sich. Die Bläser lächelten verlegen. Peer Matthei blinzelte Schulte verschmitzt zu und brabbelte etwas von Nordic Walking.
„Wo genau hat denn nun Frau Schneider gestanden, als es losging?“ Deelke wies auf die dem Platz seitlich abgewandte Ost-Seite.
„Und dann gehen wir im Uhrzeigersinn nach jeder Strophe zur nächsten Seite, also nach Süden, dann Westen und schlussendlich Norden“.
Gemeinsam schritten Sie Seite um Seite ab. Der größte Teil der Fläche wurde vom quaderförmigen Turmspitzensockel eingenommen. An den Ecken erhoben sich die Seitenwände gefährlich, so dass man die Füße anheben musste, um nicht hängenzubleiben. Der Boden war uneben und provisorisch mit winzigen Holzlatten ausgelegt. Es war unglaublich eng, um die Turmspitze herum konnte man kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Schulte war froh, dass er keine Ledersohlen anhatte. Mühsam unterdrückte er seine Höhenangst. Auf einmal peitschte der Wind ihm regelrecht um die Ohren und er klammerte sich an die Balustrade. Er musste erstmal tief durchatmen, bevor er weitergehen konnte.
„Und an dieser Stelle ist sie dann gestürzt.“ Deelke zeigte auf die Ecke. „Sie muss genau in dem Moment gefallen sein, als alle in Bewegung waren, sonst hätten wir sie ja im Blick gehabt.“
Die Balustrade war zwar recht hoch, aber die Abstände zwischen den steinernen Streben waren deutlich breiter als erwartet. Eine zierliche Frau, die ausrutscht und in der Dunkelheit das Gleichgewicht verliert, könnte vermutlich tatsächlich hindurchpassen. Oder sich absichtlich hindurchquetschen.
„Wahrscheinlich wollte sie vermeiden, aufgehalten zu werden.“ sagte Schulte.
„Meinen Sie etwa, sie ist absichtlich gesprungen? Das ist doch absurd.“ entgegnete Matthei. „Es war glatt und vielleicht war die Erkältung doch zu viel, sie muss einen Schwächeanfall gehabt haben.“
„Nun, sie hat einen eindeutigen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie hatten keine Ahnung von Ihren Depressionen und Selbsttötungsabsichten?“ fragte Schulte.
Matthei schlug die Hände vors Gesicht. Die Bläser schauten betreten zu Boden.
„Im Übrigen finde ich es unverantwortlich, diesen Turm öffentlich begehen zu lassen, zumal von Kindern. Sehen Sie doch, die Abstände in der Balustrade sind viel zu groß, sie muss hindurchgestiegen sein.“ Schulte zeigte auf die große Lücke in der Ecke.
„Moment mal!“ sagte Peer Matthei. „Wo ist denn der Sicherungsdraht? Hier verläuft eigentlich auf halber Höhe ein stabiler Metalldraht, der die Lücke absichert.“
„Interessant!“ sagte Schulte. „Wer hat denn Zugang zum Turm? Wann haben Sie denn den Draht das letzte Mal kontrolliert?“
„Das ist so eine Sache. Der Schlüssel hängt bei mir im Büro an der Wand. Das wissen alle, die in der Kirche zu tun haben. Wir benutzen den Turm aber nur zweimal im Jahr. Beim Gloriasingen und beim Tag der offenen Tür im Sommer. Da war der Draht bestimmt noch da. Aber meine Hand ins Feuer kann ich dafür nicht legen.“
„Sie meinen also, fast jeder kann hier hochkommen und den Draht entfernt haben?“
„Nun ja, mein Büro ist nicht verschlossen.“
Die Spurensicherung würde unmöglich Fingerabdrücke auf dem Grünsandstein nehmen können. Dazu war er viel zu porös. Und auch an den Holztüren hatten all die Kinderhände ihre Spuren hinterlassen.
„Es kann aber auch sein, dass der Draht schon länger fehlte?“ fragte Schulte nochmal.
„Im Prinzip schon.“ antwortete der Pfarrer nachdenklich.
„Meine Herren, wann waren Sie das letzte Mal vor der Tat hier oben?“ fragte Schulte nun, an die Bläser gewandt.
„Vor genau einem Jahr, beim letzten Gloriasingen.“ antwortete Deelke. Stussek, Achendorf und Biese nickten nur.
Befangen stiegen sie hinab.
Im Kirchenschiff angekommen, nahm Schulte von alle Bläsern auf, seit wann sie Herta kannten, wie oft sie bereits beim Gloriasingen mitgemacht hätten und ob sie einen Hinweis zum Verbleib des Drahtes hätten. Es ergaben sich aber keine erhellenden Erkenntnisse. Keiner konnte sich erinnern, den Draht in der Tatnacht oder überhaupt jemals zuvor bemerkt zu haben.
Beim Hinausgehen bemerkte Schulte die reich verzierten Grabplatten am Fußboden des Kircheneingangs.
„Wie alt sind denn diese Gräber?“
„Dieses hier ist von 1707. Aber hier sehen Sie nur einen kleinen Ausschnitt. Rund um die Kirche waren jahrhundertelang Friedhöfe angelegt. Unter dem Petrikirchhof liegen die Toten noch immer in mehreren Schichten. Das ist den wenigsten bewusst.“
Mit einem leichten Schaudern ging Schulte über unzählige Gebeine hinweg zu seinem Auto.
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