Es dauerte mehr als eine halbe Stunde ehe er so weit war, sich endlich mit einem heißen Tee an den Tisch zu setzen. Das Fenster stand jetzt weit geöffnet, zusätzlich lief der Deckenventilator auf vollen Touren. Dennoch wollte er sich eilig vergewissern, ob nicht doch irgendwelche Spuren von nächtlichen Eindringlingen Richtung Strand zu sehen waren. Beruhigt ging er zurück in sein schmuckes Häuschen.
So saß er nun entspannt am Tisch diesmal in ziviler Kleidung, ohne Symbole seiner Glaubenskongregation. Unbeachtet dessen, dass er ein abgebrühter Profi war, fühlte er sich in der gewöhnlichen Straßenkleidung wesentlicher wohler, als in der schwarzen Soutane mit dem Quäntchen weißer Kragenpracht. Er war immer der Ansicht, dieses Quäntchen weißer Stoff war das Symbol für den Restbestand der Unschuld seiner Bruderschaftsgesinnung. Das Taubengrau der Nonnenkleidung und das klein bisschen weiß am Adamsapfel galt für den Knaben Donovan als Symbol der Verlogenheit schlechthin. Er bekam mehr Prügel von diesen Weibern als er zählen konnte. Am meisten hasste er den Ring der Hochwürden, dessen Härte er oft spürte. Den Mief der verkorksten Männlichkeit, den sie in ihrer unmittelbaren Umgebung verbreiteten, trotz mehrfach überzogener Röcke. Wer auch immer der Modeschöpfer seiner Bruderschaft gewesen sein mag, muss wohl entsetzlich viel Hass auf die Mutterkirche gehabt haben. Eines musste man diesem Modeschöpfer dennoch lassen, dass er wohl ein ehrlicher Mensch gewesen sein mag. Die Auswahl der Farben Schwarz, Purpur, Rot und Taubengrau offenbarte vortrefflich die Gesinnung dieser verlogenen Moral. Die zivile Kleidung im Tropenkaki gab dem Priester Donovan das Gefühl, dem satanischen Einfluss beinahe entronnen zu sein. Irgendwo in einem der vielen Klöster die er durchlaufen musste, kritzelte einer seiner Kommilitonen einen Spruch an die schmutzige Toilettenwand:
„Wer die eigene Seele zutiefst hasst, kleidet sich in den Farben der Toten.“ Darunter schrieb jemand anderes seinen Kommentar:
„Wer dem Teufel in den Arsch schaut, darf schwarz tragen. Ein klein wenig weiß ist erlaubt.“
Priester Donovan war sich zum ersten Mal bewusst, welche befreiende Wirkung die Zivilkleidung in diesem Moment auf ihn ausübte. Er las die sonderbare Notiz noch einmal durch. Schlussendlich faltete er den Zettel so klein es ging zu einem Würfel zusammen und steckte ihn in die Brusttasche.
Er traute sich nicht das dicke Buch anzufassen. Nicht weil er eventuell vor alten Büchern Ehrfurcht hatte. Die alten nach Schweiß und Bleitinte stinkenden Wälzer hasste er wie die Pest. Vielmehr zwang ihn der Scharfsinn eines abgebrühten Sprengstoffexperten, unerwartete Geschenke mit Vorsicht zu behandeln. Daher beugte er sich zum Rand des Buches und schnüffelte wie ein Hund daran. Unverkennbar vernahm er den intensiven Duft von Jasmin. Sein von Paranoia befallenes Hirn entwickelte sofort einen sehr abwegigen Gedanken. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass ein abgebrühtes Weib wie die M.M. das Nitroglyzerin mit Jasminblüten zur festen Masse gemischt hat, damit niemand einen Verdacht schöpft. Er setzte sich wieder hin und las den Titel, der in Goldschrift ins Altleder eingeprägt war:
„Die Aktivitäten des Opus Dei im Dienste der illuminierten Idioten“ Darunter drei Namenskürzel: M.M./J.P./M.P.
Wer M.M. ist wusste er schon aus dem Traum. Die Kürzel J.P. und M.P. blieben ihm ein Rätsel. Kurz entschlossen stand er auf, ging in die Küche, suchte das längste Messer das er finden konnte. Ohne sich hinzusetzen schob er ganz behutsam das Messer unter den Buchdeckel. Von Anfang bis Ende kein spürbarer Widerstand zu bemerken. Mutig hob er den Deckel mit der Messerspitze leicht an, bückte sich um darunter zu schauen. Nichts Verdächtiges konnte er entdecken. Entspannt setzte er sich hin. Mit den Fingerspitzen hob er die äußere Ecke langsam hoch. Verblüfft stellte er fest, dass er gar kein Gewicht des Deckels wahrnehmen konnte. Erst dann fiel ihm ein, das Buch sei ein Hologramm dessen, was woanders als Materie existierte. Irgendein neumodischer Hokuspokus der Elektroniker oder ähnliches, versuchte er das Phänomen zu erklären.
Die erste Seite des Buches war schneeweiß. Lediglich in der Mitte stand ein kurzer Hinweis in Goldbuchstaben, eine Art Gebrauchsanweisung wie folgt geschrieben:
„Die Bilddarstellungen mit dem Zeigefinger der linken Hand leicht berühren. Nicht erschrecken, die Bilder werden dann lebendig.“
Auf einmal vor Neugierde gepackt vergaß Priester Donovan jede Vorsicht und blätterte die Seite um. Auf der linken Seite stand ein kurzer Text, diesmal in blauer Farbe gedruckt:
„Soeben erhielten wir die chiffrierte Anweisung von H.K. Washington DC. Die in Rabaul vorhandenen unterirdischen Tunnel (von den Japanern 1942-1944 für militärische Zwecke ausgegraben) als geeignetes Depot für Sprengstoff zu verwenden. Die Zielpersonen befinden sich noch im Simson Hafen und warten auf die Ankunft eines befreundeten Kapitäns - Stopp -
Altes Munitionsdepot der Japaner siehe Skizze auf der rechten Seite -stopp-
Zeitzünder sind schon im braunen Koffer am Flughafen in der gecharterten Maschine geladen - Stopp -
Nehmen Sie nur leichtes Gepäck mit - Stopp -
Abflugzeit 17. Mai 1967 um 13 Uhr - Stopp -
Alle weiteren Instruktionen im braunen Koffer enthalten - Stopp -
Wünsche gute Reise - Stopp -
Admiral A.J.
Priester Donovan las den Text dreimal durch, um sich der Tragweite dieser Anweisung voll bewusst zu werden. Erst dann betrachtete er die rechte Seite des Blattes.
Die ganze Seite zeigte einen Ausschnitt einer Seekarte, die das Hafenbecken sowie Umgebung von Rabaul in feinen kaum sichtbaren Linien darstellte. Dagegen war das unterirdische Tunnelnetz das die Japaner im zweiten Weltkrieg mit Hilfe von Tausenden Kriegsgefangenen und von sonst wo angeschleppten, versklavten Menschen ausbuddeln ließen, mit dicken braunen Linien gekennzeichnet.
Die Eingänge in das Tunnelnetz symbolisierte ein kleiner schwarzer Kreis, aber die Munitionsdepots, bzw. potentielle Sprengladungen waren mit X-Kreuzen in roter Farbe markiert. Ihm fiel sofort auf, dass die roten Kreuzchen einen Halbkreis rund um die Stadt und den Hafen bildeten.
Priester Donovan verstand eine Menge von subversiven Techniken sowie die enorme Zerstörung der angeordneten Sprengladungen. Nacheinander gezündet, in einem Zeitabstand von wenigen Sekunden als Kettenreaktion gedacht, brächte diese gigantische Menge an Zeug die ganzen umliegenden Berge zum Abrutschen. Die Zerstörung der Stadt mit dem Hafen wäre die Folge.
Vor seinen geistigen Augen vollzog sich gerade solch ein Szenario. Vor Schreck wurde ihm wieder mulmig im Kopf und Bauch. Er hatte noch nie von der Existenz dieser unterirdischen Tunnel gehört, genauso wenig von der Stadt und der Insel, auf der er demnächst ein großes Unheil anrichten sollte. Er kannte sich sehr gut in Europa, Nordafrika, Zentralamerika aus. Von Rabaul hatte er noch nie etwas gehört. Sogar das Archipel Palau auf dem er seit drei Monaten auf einen Einsatz wartete, war ihm vorher unbekannt. Was ihn am meisten zu schaffen machte, war die Erkenntnis, dass man ihn für diesen Auftrag auswählte.
„Das soll also meine letzte Reise und letzte Dienstleistung in meiner Karriere sein“, flüsterte er leise, als fürchtete er dass jemand mithörte.
In seiner erfolgreichen Laufbahn in der Bruderschaft brachte er so manches Gebäude zum Einsturz, aber eine ganze Stadt zu begraben, das ging auch über sein Vorstellungsvermögen weit hinaus. Er kannte sich in der Geschichte des römischen Reiches aus, deren unersättlicher Drang, die ganze Welt zu beherrschen. Römisches morbides Verlangen nach monumentalem Größenwahn. Abschlachten, Zerstören, neue Symbolbauten in noch gigantischeren Formen zu errichten, deren krankhaftes Bedürfnis die seelische Schäbigkeit durch Gigantomanie zu ersetzen.
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