»So? Dann sind Sie der Einzige, der die Antworten schon kennt.«
»Ich bin hier aufgewachsen. Es sind besonders gefährliche Querströmungen, die sich bei ablandigem Wind bilden. Die Wellen, die sich dann am Strand brechen, sind relativ klein, und der Sog verursacht diese ungeheuer tückischen Strömungen, die sehr gefährlich sind.«
»Warum kann man davor nicht rechtzeitig warnen?« , bohrte Halmer nach.
»Weil sie punktuell auftreten, also niemals gleichmäßig, und schon deshalb nicht zu kontrollieren sind.«
»Ich muss mal«, quengelte die Kleine.
»Komm«, sagte Maria Halmer zu ihrer Tochter und stellte sie auf die Beine, »steh ein wenig auf.«
»Geh mit ihr! Du kennst das Ergebnis, wenn du es nicht tust.«
Es war ein Befehl, kein Hinweis.
Simons hatte Mühe, sich zu beherrschen. Aber er tat es, wenngleich mit Widerwillen. »Auf dem Gang, die zweite Tür links«, sagte er.
Sein Telefon klingelte.
»Gibt es etwas Neues?« , fragte Larsson. »Ich würde noch schnell ins Brauhaus essen gehen.«
»Die Familie Halmer ist da.«
»Schön, dann komme ich gleich.« Larsson tat etwas, das ihm als Feinschmecker eigentlich zuwider war. Er hielt an einem Stand und kaufte sich eine Bockwurst. Wenig später fuhr er auf den Parkplatz seiner Dienststelle.
Maria Halmer kam mit dem Kind von der Toilette zurück und nahm ihren Platz wieder ein.
Als er ins Büro der Kommissare kam, spürte Larsson die Spannung zwischen Luan Halmer und Simons sofort. »Kann ich irgendetwas helfen?« , fragte er in leichtem Ton.
»Ich habe erwartet, Sie hier zu treffen, nachdem Sie gestern mit mir telefoniert haben«, sagte Luan Halmer vorwurfsvoll.
»Die Polizei, Herr Halmer, hat nicht nur eine Baustelle. Aber um zur Beruhigung beizutragen, will ich Ihnen sagen, dass ich auch am Vormittag ausschließlich damit beschäftigt war, die Hintergründe zu dem Unfall Ihres Sohnes abzuklären. Und auch gestern Abend haben wir unser Möglichstes getan. Die groß angelegte Suchaktion musste am Abend gegen zehn Uhr wegen der hereinbrechenden Dunkelheit zunächst unterbrochen werden. Heute ist die Tauchergruppe der Polizei da und beteiligt sich seit dem frühem Morgen intensiv an der Suche.«
»Ohne Erfolg nehme ich an.«
»Bisher leider ohne Erfolg.«
»Sie sind also sicher, dass es ein Unfall war?«
»Ja.« Larsson zog sich einen Stuhl heran, der vor dem Schreibtisch Rolf Andresens stand, stellte ihn seitlich an den Schreibtisch Simons’ und setzte sich. Von hier konnte er auf kürzeste Distanz Halmer in die Augen schauen. »Es gibt keinen Grund für eine Annahme, dass Ihr Sohn anders zu Tode gekommen sei als durch einen Unfall.«
»Wie können Sie das so bestimmt sagen, obwohl Sie noch nicht einmal seine Leiche gefunden haben?«
»Es ist die Essenz dessen, was wir durch die Befragungen sowohl Ihrer Frau als auch der Helfer vor Ort herausgefunden haben. Aber wenn wir Ihren Sohn finden, wird selbstverständlich die Beurteilung der Rechtsmedizin eine abschließende Rolle spielen.«
Larsson dachte an einen Fall, der sich Mitte der neunziger Jahre in Berlin zugetragen hatte. Eines Morgens wurde er verständigt, dass ein junges Mädchen am Müggelsee aufgefunden worden war. Sie hatte einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, und die Ermittler waren sich sicher, dass eine natürliche Todesursache ausschied. Doch dann kam die Wendung durch die Rechtsmedizin. Der leitende Rechtsmediziner konnte nachweisen, dass die Verletzungen nicht durch einen Schlag, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach durch die Drehung einer langsam laufenden Schiffsschraube hervorgerufen worden war.
»Werden Sie meinen Magnus überhaupt finden?«, fragte Luan Halmer.
»Das weiß ich nicht. Niemand kann das mit letzter Sicherheit wissen. Wir haben aber vereinbart, dass wir bis zum Sonnabend weitersuchen lassen. Dann allerdings …« Larsson beendete den Satz nicht.
»Da die Chance so gering ist, werden wir heute hier unsere Zelte abbrechen und nach Berlin zurückgefahren«, sagte Halmer.
Larsson antwortete mit einer Verzögerung. »Es ist sicher gut, wenn Sie einen Abstand zwischen sich und den Unglücksort bringen. Ich werde Sie in jedem Fall davon verständigen, wenn sich eine Änderung in unseren Ermittlungen ergibt.«
»Haben Sie noch Fragen an meine Frau oder an mich?«
»Im Augenblick nicht.«
Luan Halmer stand auf und machte seiner Frau mit einer Kopfbewegung klar, dass sie mitzukommen habe.
Als die Halmers das Büro verlassen hatten, sagte Simons: »Ein unangenehmer Mensch, dieser Halmer.«
»Du solltest nicht so hart urteilen, Karl. Er hat seinen Sohn verloren, also befindet er sich in einer Ausnahmesituation.«
*
Zwei Tage später passierte etwas Ungeheuerliches. Die inzwischen angereiste und bei der Suche eingesetzte Tauchergruppe fand anstatt des ertrunkenen Kindes einen Mann, der mit einer Harpune regelrecht an eine der Spanten linksseitig des Kiels des Fischerbootes Seefalke angenagelt worden war. Das Boot war über Nacht nicht an Land gezogen worden, weil der alte Belarus-Traktor, der diese Aufgabe zu übernehmen hatte, nicht ansprang. Deshalb lag der Seefalke nur etwa hundert Meter vom Strand entfernt auf Reede.
Die Aufregung war verständlicherweise groß.
Noch während die Männer der Spurensicherung und der Tauchergruppe das Opfer von allen Seiten fotografierten, wurde Larsson durch den Kriminal-Dauerdienst zur Fundstelle geschickt.
Larsson begrüßte seinen Kollegen, den Leiter der Tauchergruppe Kurt Salomon. »Ich habe nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen werden.«
Sie gaben sich die Hand.
»Vielleicht sollten wir hier eine Dependance einrichten«, frotzelte Salomon mit einem Augenzwinkern. Er öffnete das Fahrerhaus des Taucher-Basisfahrzeuges, das bis an den Ermittlungsort herangefahren war. Neugierige Urlauber standen herum und mussten immer wieder auf Distanz gebracht werden.
Hauptkommissar Salomon klappte den Laptop auf, der im Führerhaus auf dem Sitz lag. »Ich zeige Ihnen, was meine Leute vorgefunden haben.« Nacheinander rief er einige Bilder ab.
»Das ist eine inszenierte Hinrichtung«, sagte er.
»Hast du das Gesicht in einer Großaufnahme?«
Wieder klickte der Hauptkommissar einige Bilder an und vergrößerte dann das Bild, das das Gesicht des Toten optimal zeigte.
»Wow!«, sagte Larsson. »Das Gesicht kenne ich.«
*
Larsson wählte die Handynummer von Kriminalkommissar Rolf Andresen.
»Andresen, guten Tag.« Natürlich musste er es auf dem Display längst gesehen haben, wer ihn zu erreichen versuchte.
»Es ist etwas eingetreten, was mich veranlasst, dich zu bitten, schnellstmöglich zurückzukommen.«
»Nichts ist so wichtig, dass es mich von meinem wohlverdienten Kurzurlaub abhalten könnte«, sagte Andresen, und Larsson konnte unschwer heraushören, dass seinem Mitarbeiter die Störung absolut nicht passte.
»Du erinnerst dich an Smirnov?«
»Der Kerl, der an einem Puff in Greifswald beteiligt ist?«
»Kein Puff, an einem Escort-Service.«
»Das ist doch dasselbe.«
»Beinahe.«
»Du kannst nicht verwinden, Lasse, dass du den Fall nicht aufgeklärt hast«, maulte Andresen. »Wie hieß sie gleich, die Kleine, mit der wir ihn in Verbindung gebracht hatten?«
»Anastasija Saizew«, las Larsson den Namen vom Bildschirm seines Computers.
»Anastasija Saizew«, Andresen ließ den Vornamen der ermordeten Frau langsam auf der Zunge zergehen. »Das war mal ein verdammt hübsches Frauenzimmer«, sagte er.
»Deine Frau scheint nicht in der Nähe zu sein«, sagte Larsson.
»Sie feilscht vor dem Boot um einen Fisch, den wir zu Abend machen wollen.«
»Smirnov ist tot.«
»Ermordet«, stellte Andresen sachlich fest, als wüsste er bereits über den Fund Bescheid.
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