Nichts. Kein Bild, kein Ton. Ole gibt keinen Laut von sich. Er spielt das Schweigen der Männer.
Kurz vorm Verzweifeln was die Schlafsituation angeht, lasse ich meine Optionen noch einmal Revue passieren. Mit Thomasthorstentobias will ich weder das Bett teilen geschweige denn Körperflüssigkeiten austauschen. Ferner möchte ich mir nicht gewaltsam jemanden vom Leib halten müssen, obwohl ich mir den Weg in die Küche und die Lage der schärferen Küchenutensilien gut eingeprägt hatte. Sollte ich also Lüsternheitsattacken mit einem Kartoffelschäler und einem Pfannkuchenwender abwehren müssen, so wäre ich gut vorbereitet.
Plötzlich brummt es in meiner Hose und Ole bietet mir sein Heim als Schlafplatz an.
„Klar kannst du bei mir pennen, der Rest liegt bei dir“, schreibt er. Halleluja, wie viel Freude man jemandem doch mit 55 Zeichen bereiten kann! Ich fühlte mich wie Rumpelstilzehen und tanzte im Geist um Oles Bett herum: ‚Erst vögele ich dich, dann quäle ich dich, dann nehme ich mir mein Herz zurück – ach wie gut dass niemand weiß, dass ich Nora SchmiDT mit DT heiß‘...
Nach seiner SMS trinke ich mir also ordentlich Mut an und begebe mich, natürlich unter Protest der Jungs, kurz bevor ich nicht mehr laufen kann, auf den Weg zu Ole. Das Klingelbrett verschwimmt vor meinen Augen und ich denke noch: Jetzt nur keinen Fehler machen. Mit einem flauem Gefühl im Bauch suche ich nach seiner Klingel, ich drücke einen Knopf und die Sekunden zwischen Knopf drücken, Brust raus, Bauch rein, aufrechtem Gang, strahlendem Grinsen, Haare ordentlich machen und wieder wild verwuscheln, noch mal in die Hand atmen, ob mein Atem kusstauglich ist, ziehen sich kaugummiartig und Hubba-Bubba-Blasen-esk in die Länge.
Es summt. Irgendjemand ist da und hat mich rein gelassen.
Die drei Etagen zu Oles Wohnung machen auf mich den Eindruck eines dieser berühmten, nicht enden wollenden Treppensteig-Gemälde von M. C. Escher und ich habe das Gefühl, mich im Kreis zu drehen. Mit meinem Schwips gepaart, ist dieses Treppenhaus die perfekte Mischung, dass ich Ole vor die Füße kotze. Plötzlich öffnet sich vor mir eine Tür und mir steht ein verwuscheltes, knautschiges Etwas gegenüber.
Halb geschlossene Augen schauen mich an und ein schiefes Lächeln empfängt mich. Alles an seiner Person strahlt aus, dass er genauso unsicher ist wie ich und auch nicht weiß, wohin das denn jetzt führen wird – und alles, was ich denken kann, angesichts meines imaginären Gottes der letzten Wochen, ist: „du siehst gut aus, aber du bist nicht Gott!“
Mit diesen Gedanken stürme ich in seine Wohnung, nehme mir die erstbeste Tür vor, hinter der ich das Badezimmer vermute und freue mich, als ich die Kloschüssel sehe. Selten habe ich mich mehr über dieses Erzeugnis aus Keramik gefreut. Kraftlos hänge ich mich kopfüber über die Schüssel und lasse den Abend noch einmal geräuschvoll Revue passieren.
„Hallo Nora, schön dich zu sehen, komm doch herein.“ Ole steht lässig im Türrahmen und ich stelle fest, nachdem sich Bienenstich, Weißwein und Pizza des Abends ihren Weg ins Freie gebahnt haben, dass unsere Begrüßung zeitversetzt abläuft. Er setzt sich auf den Wannenrand und hält meine Haare zurück, während mir der Abend aus dem Gesicht fällt.
Als nichts mehr kommt, stellt er mir wortlos eine Zahnbürste hin und holt aus der Küche eine Aspirin. Kommentarlos löst er die Tablette in lauwarmem Wasser auf und reicht mir das Glas. In großen, durstigen Zügen trinke ich das bittere Zeug, spüle mir mein Gesicht und greife nach etwas, von dem ich denke, es ist ein Handtuch.
„Nora, das ist mein T-Shirt“, höre ich ihn sagen, aber da hänge ich schon mit meinem Gesicht an seinem Bauch und atme den Duft seines Waschmittels und seiner Haut und verliere mich. ,Jetzt bloß nicht bewegen‘, denke ich und trockne mir ausgiebig das Gesicht.
„Na komm, mien Deern, ist ja gut“, Ole hält mir ein Handtuch hin und nachdem ich mit dem Abtrocknen fertig bin, führt er mich zielstrebig in eine Richtung, von der ich inständig hoffe, dass es das Schlafzimmer sei. Nach fast vier Wochen Funkloch ist ihm meine Gegenwart in seinem Bett also nicht unangenehm und ich schöpfe neuen Mut. Die wichtigen Dinge des Lebens schwirren mir Kopf herum. Etwa, warum die Antwort auf alle Fragen immer zwangsläufig ,,42“ sei und was denn nun zuerst da war, das Huhn oder das Ei. Oder wie das mit der eierlegenden Wollmilchsau nun wirklich funktioniert und ich öffne meinen Mund, um mit diesem noch fast schlafenden Etwas eine Grundsatzdiskussion zu starten, als mein kleines Teufelchen auf der rechten Schulter ein Machtwort spricht und mir zu zischt: „SchmiDT, einfach mal Fresse halten“.
Sparsam an Gesten und Worten, aber Händchen haltend starten wir in die letzten Nacht- und ersten Morgenstunden. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nie verstanden, wenn Menschen sagen: „und dann führte Eins zum Anderen“, aber es ist genauso: Lippen finden sich, Hände wandern, der Kopf ist dafür da, immer mal nach links und rechts geworfen zu werden, die Ohren bekommen einen neuen Sinn – Körper sprechen ja dann doch irgendwann ihre eigene Sprache. Die nächsten Stunden vergehen wie im Flug, schweißtreibend, als ob es kein Morgen gäbe und dies die letzte Gelegenheit für ein Miteinander sei, fallen unsere Körper übereinander her. Irgendwann zollen wir der Nacht Tribut und versuchen, ein wenig Schlaf zu finden.
Am späten Nachmittag sitzen wir uns wie zwei Gestrandete am Küchentisch gegenüber. Zwei einsame Herzen, die selber nicht genau wissen, was sie da machen – aber es fühlt sich gut an. Nicht mehr und nicht weniger.
Das Wetter lacht uns aus, die Sonne scheint, der Himmel ist blau wie die Einrichtung eines Jugendzimmers bei IKEA. Ich nehme einen letzten Schluck aus der Kaffeetasse, einen letzten Blick durch die Wohnung, einen letzten Zug von Oles wahnsinnig angenehmem Parfüm. Ich stehle mir mein Herz zurück und schreite von dannen, stolz wie eine Göttin, die letzte Nacht den Olymp erobert und einen Krieger erlegt hat, der ihr eigentlich nicht zusteht.
Ich wiege mein durchvögeltes Becken durch die Straßen, vermutlich, weil ich nicht anders laufen kann. Ich hatte Sex gehabt wie ein Mann, ich hatte mir genommen, was mir gehörte und wonach mir der Sinn stand und ich fühlte mich gut und unnahbar und beschloss, dieses Gefühl, diesen Augenblick zu konservieren und in passenden Momenten, wenn es mir schlecht ging, immer wieder hervorzuholen.
Ich war die Königin der Nacht, ich war die erfolgreiche Kriegerin der Welt, ich hatte den heiligen Gral gefunden und bewahrte ihn auf, sollte die Welt irgendwann bereit sein für die Wahrheit.
Ich hatte zwar mein Herz zurück, aber es war gebrochen und ich wusste nicht, wie man es denn wieder kitten sollte und so beschloss ich, Ole noch einmal zu sehen. Manchmal muss man dem Leben noch einmal so richtig eins in die Fresse hauen.
Ungefähr anderthalb Wochen später treffen wir uns wieder. Anderthalb Wochen weiser und älter, aber vermutlich nicht ein bisschen schlauer. Er kommt auf mich zu, begrüßt mich, wie man einen alten, lang nicht gesehenen, entfernten Freund begrüßt und fragt, was er mir zu Trinken bestellen könnte. Das ausgefallenste Getränk auf der Karte ist Rhabarberschorle, und so halte ich mich den ganzen Nachmittag an diesem süßsauren Getränke fest, welches perfekt zu meiner Stimmung passt.
Das Gespräch plätschert von einer peinlichen Pause zur nächsten und ich wünsche mich einfach nur weg. Ich gnubble das Etikett von der Flasche und ziehe laut hörbar die letzten Saftblasen durch den Strohhalm. Ich ließ ihn bluten und bestelle eine Flasche nach der anderen, dazwischen Kaffee und Käse-Schinken-Croissants.
Ole hatte den dringenden Wunsch, mir seine neue Freundin vorzustellen (warum eigentlich?), die ich unbedingt doof finden wollte (warum eigentlich?): Während wir da so sitzen, im schrecklich hippen Hamburg, wünsche ich ihm die Krätze an den Hals und ihr Pickel an fiesen Stellen. Dabei finde ich mich großartig – und ganz klein und mies und mickrig zugleich. Nach vielen nichtssagenden Worten und leeren Gesten fährt er mich zu meinem Hotel zurück (warum eigentlich?), wünscht mir eine gute Heimreise und ich merke, es braucht manchmal nicht viel, um ein Herz zu kitten.
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