Dazu war Nestor noch nicht bereit, er bat um einen kleinen Aufschub. Wenn die Schuld gesühnt und besiegt ist, ich mir selbst verzeihen und mich endlich um den Schmerz kümmern kann, komme ich zurück, obwohl ich mich eines so hohen Amtes, nach Allem was ich zugelassen habe, trotz Buße, für unwürdig halte, antwortete er.
Der Kardinal entließ ihn kopfschüttelnd. Er war der Einzige, der einen winzigen Teil, nur den ersten Schritt von Nestors „Sünde“ kannte. Bei Weitem nicht die ganze Wahrheit. Und dieser kleine Teil des Wissens darüber, bewog ihn dazu, es als verzeihbaren menschlichen Fehltritt abzutun. Er nannte es sogar einen jugendlichen Fehltritt, obwohl Nestor damals, als ihn das Unheil ergriff, schon leicht ergraute Schläfen vorzuweisen hatte. Er sei wahrlich nicht der Erste und auch nicht der Letzte in diesen Reihen, behauptete der Kardinal, dem solches Versagen, der Bruch des Zölibats, unterlaufen sei.
Zwei Monate später hielt Luz del Mar ihren gültigen Ausweis in Händen und wurde vom Pfarrer zum Fernstudium für die Hochschulreife angemeldet. Sie umarmte den Pfarrer dankbar.
Alles ist zu bewältigen, wenn du am richtigen Hebel sitzt, aber für dein geistiges Gut und dein Gewissen sind alle Hebel der Welt machtlos. Ich wollte Buße tun und leiden. Und was kam dabei auf mich zu? Ich bin königlich beschenkt worden.
Ein Kuss auf ihre Stirn, und er schob sie aus seinem Arbeitszimmer. Zögernd blieb sie im Türrahmen stehen und fragte etwas, was sie sich schon sehr oft selbst gefragt und aus Respekt vor ihm, nie laut ausgesprochen hatte. Warum leitet ein weltgewandter, überqualifizierter Priester deines Alters, mit hohen Beziehungen zum Kardinal, noch immer die Seelensorge einer Horde Wilder in der hintersten Provinz des Landes?
Sie hatte niemals, seit sie ein kleines Mädchen war, Usted oder Hochwürden zu ihm gesagt, wie ihre Mutter es tat, sie duzte ihn und nannte ihn “mi tio Nestor“, mein Onkel.
Hochmut und Stolz fällt auf dich zurück, mein Kind, sie trennen dich von der Wahrheit, vom Sinn des Seins, und, niemand ist überqualifiziert, wenn es um den Dienst an der Menschheit geht. Er betonte langsam, ausdrücklich und in zwei Silben ausgesprochen, das Niemand.
Er fügte hinzu, ich wollte büßen und leiden, bis ich mir selbst verzeihen kann. Dann wurde ich mit einer Tochter beschenkt, mit dir, als hätte Gott mir schon verziehen. Wenn ich manchmal dachte, ich könnte meine Schuld nicht mehr tragen, kamst du angelaufen, fasstest mich an der Hand und zeigtest mir einen Schmetterling, einen besonderen Stein, den du gefunden hattest oder einen Baum, der dein Freund geworden war, dem du einen Namen gegeben hattest. Du fragtest, ob mir der Name gefiele, ob er passend sei für dieses Wesen. Wesen, sagtest du zu einem Baum, und du warst noch keine acht Jahre alt. Du fragtest mich immerzu, alles erweckte deine Aufmerksamkeit und Freude. Als du kleiner warst, hatte der Mond es dir besonders angetan. Kann er wirklich alles sehen, fragtest du, wo ist das zweite Auge und warum zwinkert er niemals? Kann er singen, hat er Verwandte, sind die Sterne seine Kinder? Du hattest stundenlang still da gesessen und nach dem zweiten Auge Ausschau gehalten. Einige Jahre warst du mondsüchtig, sprachst im Schlaf unverständliche Worte und irrtest in der Nacht schlafend in Haus und Garten herum. Ich lernte von dir so viel Wissenswertes, mehr als jemals auf dem Priesterseminar. Ich fühlte mich nicht nur verantwortlich, ich genoss besonders die Nähe deiner kindlichen Weisheit. Ich ließ durch sie eine Art Heilung des Gemüts zu. Auch wenn andere Aufgaben, wie man irrtümlicherweise meint, Wichtigeres, an weit entfernt gelegenen Orten auf mich gewartet haben und immer noch warten, ich hätte dich niemals verlassen können. Mit diesem Gedanken wehte ein Lächeln über Nestors traurigen Gesichtszüge.
Ihrer Meinung nach war er der hilfsbereiteste, selbstloseste Mensch, dem man begegnen konnte. Warum verlangte es ihn nach einer Buße? Von dieser Einrichtung hielt sie nichts, ganz besonders nicht, wenn man sie sich selbst auferlegte.
Buße konnte kein ungerechtes Geschehen in ein gerechtes verwandeln. Sich dadurch Schmerz oder Verzicht zuzuführen war ein Betrug am eigenen Herzen. Luz hielt diese Art von Buße für ein Trostpflaster, unter dem es nur faulen und schwelen konnte. Man musste seinem Fehlverhalten tapfer ins Auge sehen, dazu stehen, sich nicht mit Büßen und selbst auferlegter Strafe herauswinden. Nur dann konnte es einen Fortschritt des eigenen Verständnisses geben, eine Entwicklung, eine Erkenntnis. Denn Erkenntnis beginnt mit Empfindung, das hatte sie durch eigenes Erleben so zu sehen gelernt, und pure Empfindung konnte man somit nur haben, wenn man sie nicht durch Buße fehlleitete, in eine andere Richtung zerrte. Nur, um sich eine unwahre Erleichterung zu erkaufen, eine Erleichterung, die keine wirkliche war, die letzten Endes nur durch Erziehung und die Kirche propagiert wurde. Buße bedeutete für Luz del Mar, Sich-Hingeben ohne sich dem verdienten Kampf zu stellen. Sie nannte die Buße eine weitere Schwäche und sprach von Feigheit.
Pfarrer Nestor war erschüttert von dem, was dieses Kind von sich gab. Woher hatte Luz dieses Wissen, das sie so bestimmt und ohne den Anflug von Überheblichkeit auszusprechen verstand. Er spürte, dass sie Recht hatte, spürte, dass er sich mit dieser Buße selbst belog. Sie ergriff schnell seine Hand, drückte den Handrücken an ihre Wange und sah ihn liebevoll an.
Wie du weißt, neige ich nicht zur Neugier. Ich wünsche mir nur sehnlichst, dass du dich mir eines Tages anvertraust und bitte dich, damit nicht bis zum Sterbebett zu warten. Auch ich möchte dir zur Seite stehen und zwar während du lebst. Vielleicht kann ich dir sogar helfen. Sie bekräftigte ihre Worte mit einem aufmunternden Lächeln und huschte davon.
Das waren unglaubliche, geradezu unerhörte Worte eines jungen Mädchens an einen Priester. Er erlaubte ihr diese Worte, niemand stand ihm so nahe. Er liebte zwar seine Schwester, mit der er ein- oder zweimal im Jahr, zu Weihnachten und in der „Semana Santa“, für wenige Tage zusammentraf, aber diese tiefe Vertrautheit und Verantwortung, die er seiner Pflegetochter gegenüber empfand, war aus einem anderen Stoff gewebt. Eine Seelenverwandtschaft, in der er sich weit unterlegen fühlte. Erholsam weit unterlegen! Er empfand die innere Nähe zu diesem Menschenkind, wie eine lebensspendende Pause. Es war, als ruhe er in ihrer Seele. Eine Insel, auf der sein schmerzhaftes Dasein verblasste. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er sich auf unerlaubten Pfaden bewegte. In seinem Leben, in seiner Stellung, vor allem aber mit seinem Vorhaben, dem Wunsch Gott zu empfinden, durfte er keinen Menschen bevorzugt lieben. Es sei denn, er hätte sich von seiner Berufung entfernt und der Selbstsucht nachgegeben. Personifizierte Liebe hatte unweigerlich mit Selbstsucht zu tun. Darin hatte er sich vor vielen Jahren schon einmal meisterlich verrannt.
Einige Wochen nach diesem Gespräch erkrankte Nestor, er hatte hohes Fieber und starke Atembeschwerden. Sein Facharzt, der extra angereist war, erklärte zuversichtlich, mit Medikamenten und der nötigen Bettruhe könne man das noch einmal in den Griff bekommen. Es war nicht die erste schwere Lungenentzündung, die er bei diesem Patienten diagnostizierte. Er war der Ansicht, dass der Kranke sich diese Lebensumstände und das Klima hier, nicht mehr länger zumuten dürfe. Er riet ihm, sobald er wieder reisefähig sei, sich einige Wochen nach Cajamarca zu begeben, die alten Inkabäder aufzusuchen und sich täglich einige Minuten den Dämpfen der heißen Quellen zu nähern. Weiter unterhalb der Quellen, dort, wo das kochend heiße Wasser in den dafür eingerichteten Innenanlagen der zahlreichen kleinen Hotels aufgefangen wurde und abkühlte, solle er baden, solange es ihm beliebe, das brächte Erleichterung in die Atemwege.
Читать дальше