„Mein Name ist Alberi und ich bin der geistige Vater von Max! Vielleicht kann Max dein geistiger Vater werden. Aus diesem Grund hat er dich zu mir gebracht.“
Alberi unterbrach seine Worte mit einer Geste und deutete mit einer leichten Tatzenbewegung auf seine gegenüberliegende Seite. Als ich dorthin sah schien alle Zeit still zu stehen. Mein Atem stockte und Erstaunen packte mich. Ich erblickte ein Geschöpf von höchster Reinheit und Vollkommenheit. Ehrfürchtig sah ich einen weißen Drachen an. Ein zarter hellblauer Schimmer umgab seinen kraftvollen, doch harmonisch proportionierten Körper. Die Aura seines majestätischen Hauptes war ausschließlich von goldenem Licht umgeben. Er war noch größer als die Bären in der Schwitzhütte, was mir Respekt einflösste.
Als ich ihn sah schaute er mir in die Augen. Sein Blick durchdrang mich sanft. Ich glaubte in dem Augenblick, daß er alles zugleich an und in mir sah. Er blickte tief in mein Inneres. Sein Geist durchdrang meinen Geist und er sah meine Seele so klar, wie sie von Anbeginn geschaffen war.
Sanft begann er zu sprechen: „Du wirst die Gesetze der Natur anerkennen. Das ist dein erster Schritt. Deine Willenskraft ist stark wie mein Zepter. Erinnere dich!“
Als er das sagte wich ich seinen durchdringenden Blick und bemerkte sein Zepter. Er war weiß und ein kleiner goldener Drache schmückte dessen Spitze. Seine Stimme schien aus allen Richtungen an mein Ohr zu dringen. Auch innerlich konnte ich sie fühlen. Er durchdrang jede Zelle meines Körpers.
„Meine Krone ist die spirituelle Erleuchtung. Gehe diesen Weg. Er ist dir vorherbestimmt! Es ist der Weg der Liebe.“
Ich sah auf sein Haupt und bemerkte augenblicklich die goldene Krone. Er breitete seine Flügel aus und schien dabei immer größer zu werden. Nicht er wurde direkt größer, sondern das Licht, welches er ausstrahlte. Sein Licht erhellte alles um mich herum und gleichzeitig umschlang es mich. Es war überall. Es war, so empfand ich jedenfalls, als ob er sich mit mir vereinen würde, da nun auch von mir Licht auszugehen schien. Auch ich strahlte dieses Licht ab. Wir bildeten eine gemeinsame Aura. Ein Gefühl der Vertrautheit, Geborgenheit und Liebe durchströmte uns vollkommen. Wie lange dieser Zustand anhielt vermag ich nicht zu sagen.
Danach schwang er seine Flügel, drehte sich von mir ab und flog in die Ferne.
Es war still und wieder absolut Dunkel. Das Gefühl der Freude hielt lange Zeit in mir an. Mein Rausch verflog bei weitem schneller. Die Stimmung wurde zum Gefühl der inneren Zufriedenheit und Zuversicht. Ich wusste nicht auf was ich zuversichtlich sein sollte. Ich war es einfach und dachte nicht darüber nach.
Yvo öffnete den Eingang und ging heraus. Benommen vom erlebten tat ich es ihm gleich. Vor unserer Schwitzhütte setzte ich mich auf einen gefällten Baumstamm. Dort übergoss mich Yvo mit lauwarmen Wasser. Das fühlte sich richtig angenehm an. Ich rieb mich trocken und konnte meine Kleidung wieder anziehen. Der raue Wind und die Sonne ließen sie trocken werden. Max und Yvo waren zufrieden. Das konnte ich spüren. Wir verabschiedeten uns. Schweigsam gingen Max und ich zum Haus zurück.
Er kochte einen Tee: „Mit Hilfe von Alberi, ein Ahne der mich ausbildete, fand deine Bewusstwerdung zur Verbindung mit der Natur und deinem höheren Selbst statt. Halte diese Erfahrung stets in dir wach. Der Drache sagte dir den Zugang zu deiner inneren Kraft voraus. Dadurch kannst du in deiner Welt eines Tages viel nützliches bewirken. Jetzt ruhe dich am besten aus.“
Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, was er damit meinte. Das war jetzt auch nicht wichtig. Müde suchte ich das Gästezimmer auf und verabschiedete mich von Max.
Am Morgen erwachte ich und stellte erneut fest, daß ich wieder nicht im Gästebett war. Ich ging zum Höhleneingang, schob die Decken beiseite und lugte neugierig heraus.
Ich fragte mich was wirklicher ist. Die Umgebung hier oder bei Max zu sein. Im zurückgehen stieß ich mir den Kopf am Fels. Schmerzlich wurde mir bewusst, daß der Augenblick die Wirklichkeit ist.
An diesen Tag wanderte ich viel. Als die Sonne unterging kehrte ich zur Höhle zurück. Ich fragte mich, ob ich wohl immer träumen würde und ob es an der Höhle hier liegt. Vielleicht spielt mir mein Geist einen Streich, weil ich alleine hier draußen bin? Jedenfalls beschloss ich in der Höhle zu schlafen. Der Traum war einfach zu real, zu interessant, denn ich wusste, daß ich daraus lernen würde.
Innerlich fühlte ich mich viel lebendiger. Mir war bewusst, daß sich mein graues Dasein im Laufe der Zeit wandelt. Es war ein Gefühl von Voraussicht.
„Guten morgen Kleiner Bär! Willst du nicht aufstehen? Das Frühstück ist fertig!“, ertönte Max´ Stimme heiter.
„Ja, ich bin gleich soweit!“
Ich ging die Treppen herunter und setzte mich zu Tisch. Max frühstückte stets ausgiebig. Natürlich wollte ich ihm nicht nachstehen.
„Gut geschlafen?“, fragte er.
„Oh ja, sehr gut!“
„Du hast etwas gelernt.“
„Was denn?“
„Deine Wirklichkeit ist immer im Hier und Jetzt.“
„Wie kommst du darauf, daß ich das gelernt habe?“
„Weil du es gespürt hast.“
„Wie gespürt?“
„Als du dir deinen Kopf gestoßen hast.“
„Verstehe ich nicht?“
„Nicht so wichtig Kleiner Bär.
Ich war ziemlich aufgeregt, was er heute vor hatte.
„Entspanne dich“, beruhigte er mich.
Er kam zu mir herüber. Kurz darauf sah ich mich in seiner Erinnerung.
Ursus kommt ins Wohnzimmer: „Die Pferde sind gesattelt.“
„Hast du alles was du brauchst Max?“ will seine Mutter wissen.
Max nickt freudig und ist sehr gespannt auf den heutigen Abend.
Die Bärenfamilie macht sich auf den Weg zum Gebirgssee. Die Dämmerung geht allmählich in Dunkelheit über.
„Wir sind schon zwei Stunden unterwegs“, bemerkt Max. „Ich sehe kaum noch.“
„Schwarzer Wind kennt den Weg im Schlaf“, beruhigt ihn Vater.
Nach geraumer Zeit.
„Seht, die vielen Fackeln“, schwärmt Ursel.
„Wenn wir aus der Lichtung auf die große Wiese kommen können auch wir unsere Fackeln anzünden“, klärt Vater Max auf.
Auf der Festwiese ist ein Lichtermeer zu sehen, welches sich im stillen Gebirgssee spiegelt.
„Wieviel Lichter sind das?“
Vater: „Ungefähr zehntausend Besucher wurden angekündigt. Jeder trägt eine leuchtende Fackel bei sich, wie ein kleines Licht im Dunkel.“
Max Augen sind weit geöffnet und er ist von der Szenerie sehr beeindruckt.
Nach einiger Zeit befindet er sich mitten im Lichtermeer. Jeder scheint die tolle Stimmung zu genießen.
Drei Bären schreiten von der Königstribüne ausgehend direkt in die Menge der vielen Besucher. Einer von ihnen geht mittig voran. Max erkennt, daß diesen Bär ein seltsamer langer Hut schmückt, der golden im Lichterschein glänzt. In der rechten Tatze hält er einen langen Stab. Die beiden Begleiter tragen Fackeln. Das Lichtermeer bewegt sich auseinander, so daß die drei eine Holzkonstruktion erreichen.
Max sitzt auf den Schultern seines Vaters und kann die Szene gut beobachten, während sie selbst etwas zurückweichen, um den Dreien Durchgang zu gewährleisten.
Auf einem kleinen Hügel bleiben die drei Männer vor dem eigenartigen Holzstamm mit zwei nach außen ragenden Armen stehen.
Niemand spricht in diesen Augenblicken ein einziges Wort.
Die Atmosphäre wirkt festlich und zugleich ehrwürdig.
Der Bär mit dem kegelförmigen Goldhut trägt ein langes blaues Gewand mit Goldschmuck.
Er positioniert seine Stabspitze zur obersten Schale der Holzsäule und spricht ein Wort kräftig aus: „Liebe!“
Seine Stimme wirkt konzentriert, aber harmonisch im Klang. Sie erfüllt den ganzen Platz und verhallt in den Bergen als Echo. Der hohe Mittelteil der Säule entflammt sich. Das muss ein Zauberbär sein denkt sich Max. Die Schale ist fast so breit wie sein Schreibpult zu Hause und wird auf einer Höhe von ungefähr drei Metern getragen. Schräg nach rechts und links ragen Holzbalken heraus, die jeweils eine weitere Schale tragen. Der eigenartige Bär spricht mit kräftiger Stimme: „Licht“!
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