Julian Wendel - Lowlife

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Ein böses, ein unbequemes Buch… Ein Anti-Bildungsroman. Auf zwei Zeitebenen begleitet der Leser den namentlich unbekannten Ich-Erzähler auf seiner Flucht vor dem Leben, in das er sich hineingeraten sieht. Zu einem Teil flieht er vielleicht auch vor sich selbst, das ist nicht sicher… Aber ganz sicher flieht er vor den Anderen… Vor den Menschen, dem Abschaum. Die Flucht beginnt nach einer Afterhour, bei der der Protagonist stumm und angewidert den von Speed und Pillen befeuerten Gesprächen der Anwesenden ausgesetzt ist, und gestaltet sich als Irrfahrt durch die Stadt und aus ihr hinaus sowie als Spurensuche nach Fehltritten entlang des erinnerten Lebenswegs.

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Julian Wendel

LOWLIFE

Roman

»Und es wird nichts Neues daran sein,

sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer

und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muss dir wiederkommen.«

Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft

»Schau solche Affen sind wir! Schau, so ist der Mensch!

Und alle Berühmtheit, alle Gescheitheit, alle Errungenschaften

des Geistes, alle Anläufe zu Erhabenheit, Größe, Dauer im

Menschlichen fielen zusammen und waren ein Affenspiel!«

Hermann Hesse, Der Steppenwolf

Prolog: Kadavertanz

Einzig aufgrund des Umstandes, dass in meinem Blutkreislauf vier unterschiedliche Drogen zirkulierten, fühlte ich mich mit der Welt, die mich umgab, halbwegs im Reinen, einhergehend im reizlos gewordenen Halbdunkel… Ich trank Wasser, das ich aus der Leitung in meine Flasche zapfte… Bin gerade wieder knapp bei Kasse und auf diese Weise spart man Geld für stärkere, interessantere Substanzen als Bier… Es geht hier aber nicht so sehr ums Geld, als ums Prinzip… Oder das, was davon übrig ist, was noch als Prinzip durchgeht… Und überhaupt… Verhärtete Prinzipien sind doch einfallslos, bar jeder Spontanität… Man hat es nicht einfach als Polytoxikomane… Körpereigene Drogen machen das Leben erst möglich. Man braucht Dopamin, Oxytocin, Melatonin, Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol, Glycin, Acetylcholin, Gamma-Aminobuttersäure, vor allem aber Serotonin und die guten alten Endorphine… Ohne die geht nichts… Und… Habe ich was vergessen?… Man braucht diesen Cocktail, diese multiple Schizophrenie, deren wechselhaftes Spiel der Anfang aller wie auch immer gearteten Lebenskunst, allen fühlenden Seins und der Phantasie ist… Der nächste Drink sollte also wieder an der Theke geholt werden und Prozente haben.

Noch wand ich mich suchend, wartend voran… Bald spürbar erigiert und aufgewühlt im Inneren, achtlos und gegen alles Äußere umgetrieben, aufschnellend zugleich… Die Wechselwirkungen der Substanzen… Ein einziges Saugen und Strömen… Ich wollte so lange wie möglich… So lange wie nötig?… Ich wollte dabei sein… Irgendwie… Harte Griffe zarter Hände, wächsernes Zerrinnen und die eiligen Todesküsse gesalbter Lippen waren die auserwählten Reize, nach denen ich suchte… Was für ein großer Unsinn… Aber… Doch stieg ich darauf ein… Etwa so war es wohl ganz zu Beginn gewesen… Bei den frühen Kontakten… Und zu meiner großen Überraschung, stellte es sich dieses Mal recht ähnlich dar… Wie seit langem nicht mehr… Musste überdurchschnittlich gutem Stoff aufgesessen haben… Bei etwaiger Toleranz raten wir Ihnen zur Erhöhung der Dosis. Selbstverständlich, Herr Doktor, ihr guter Rat in Ehren… Sonst will ich lieber Steine umarmen, als diese amorphe Masse bewegten Fleisches hier drinnen… Nach Mitternacht im Schlachthaus, im Narrenhaus, auf dem Narrenschiff, da beginnen die ausgetrockneten Kadaver ihren Tanz… Und noch viel später, Wasserleichen, überflutet von Schweiß und Reizen, umspült und davongetragen… Und trotzdem gehe ich immer wieder her… Mein ganz persönlicher Zwiespalt… Entaktogener Schwindel… Man gibt dem Sympathikus die Sporen, um sich und andere erträglicher zu machen… Und alles wurde mir wie… Wie… Ich hab’s gleich.

Scheußlich schöne, abgerissene Gestalten im Tanzdunkel… Widerhall klickender Zähne, zerkaute Lippen und Gelächter. Die Nacht schien bevölkert mit unruhigen Gesichtern, die sich mit dem Vorbeiziehen der Stunden in süßlich aus den Hälsen und aus allen Poren qualmende, elektrisch brummende Bassmarionetten verwandelten… Mit ihren großklaffenden Augen, und schweißperlengeschmückt, bewegten sie sich wie aufgezogen durch den Raum. All diese seltsamen Figuren hielten Einzug in die Hitze meiner unheimlichen Stunden… Am Ende bleiben immer diejenigen, die zehntausend Mal über aufgebrochene Haine unzähliger Dancefloors gekrochen, gesprungen, geschmiert und getanzt waren, die Technoschall mit ihren Krallen, klebrig vom Staub zerkratzter Theken und nikotingefärbt, aus der Luft fingen… Und die Schritte… Rechts und links, immer wieder. Und man beobachtete, wie sich irgendwann, während all der Stunden mehrheitlich das Tempo anglich… Erlernte Gesten… Gesichter, die sich immer wieder zerbrachen, bei ihren nächtlichen Vorstellungen wilder Mundakrobatik und verkrampfter Mimik… Wie faserige, entstellte Heiligenbilder kamen sie von allen Seiten zuckend durch den Nebel gefahren… Ich sah Menschen, die Stoßfluten von Tequilas runterkippten und selbst schon so salzig und sauer waren, dass sie weder Salzsteuer noch Zitronen nötig hatten, sondern einander nur die bloße Haut lecken mussten, um den öligen Trunk genießbar zu machen. Manche von ihnen hatten es mit vierzehn oder fünfzehn irgendwie ins Stammheim geschafft, kurz bevor der Laden dichtmachte, und sich dort die ersten vergänglich glitzernden Ornamente in die Seele brennen lassen, deren matte Spuren sie wohl noch für ewig wie Trophäen mit sich herumtragen… Das zumindest für meine Generation. Wir waren zu jung für den Scheiß, als er so richtig losbrach… Ein Teil dieser Generation, war ich immer und war ich nie. Für andere gab es anderes zu tun. An etwas teilnehmen oder nicht. Und weiter hatte man keine bedeutenden Sorgen… Und dann… Später… Sah ich Leute, deren Schicksal es war, nach bis zur Unkenntlichkeit verquirlten Perioden von Hell und Dunkel, erledigt nach Hause zu kommen und ihre leeren Schubladen nach Tabak und Grasresten ausklopfen zu müssen, in dem Glauben, sich damit keuchend runterrauchen zu können… Typen die, wenn sie sich dann doch heimwärts begeben wollten, übermüdeten und dumpfen Taxifahrern alle Facetten der Welt zu erläutern versuchten, während der weißglühende Mittelstreifen unheimliche Tänze vor ihren Augen vollführte… Einsame Menschen, die in durchgeschwitzter Kleidung durch die erbärmlichste Kälte ungeliebter Außenwelten krochen und keinen Weg nach Hause fanden, da sie sich stundenlang verpeilt in die falsche Richtung schleppten, vom Dampf ihrer auskühlenden, versäuerten Muskeln umhüllt… Nur eine weitere Allegorie auf den Kampf um das Nichts, den Kampf mit der Allegorie auf das Nichts. Ein weiteres Abbild dessen, was ohne Abbild war… Selbst war ich nach und nach eine dieser abgelenkten und ungelenkten Seelen geworden, die gelegentlich in unbekannten Hinterhofkneipen fremder Städte abschmierten und wie toter Staub in schlaffen Sofas versanken, weil sie seit einigen Tagen wach waren und der Stoff dann endlich alle war… Und… So manches Klischee wurde schon erfüllt von denen, die sehr verstört irgendwo auf einer Parkbank aufwachten… Blöd, vertrocknet und umgeben von kichernden Mädchen, die sie mit kleinen Steinchen bewarfen… Solche, die ihre Stoßgebete ins märkische Mekka der Szene trugen… Und Geschlagene wurden, zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, wo sie auf der Holzmarktstraße auf und ab gingen… Die Zwischen den Betonsäulen des Berghains von gebräunten Männern in grünen Sporthosen und Schuhen und weiter nichts auf der Haut um Feuer und vielleicht mehr angehauen wurden… Und kühne Phantasten, die sich in der Fleischeshölle eines Darkrooms austoben wollten, aber bald resigniert flüchten mussten, aus dem völligen Dunkel und die Stahltreppe zu ihrem verwachsenen Himmel zuerst hinab-, dann hinauf- und dann hinab- und weiter hinabstiegen, da sie ihren amphetamingeplagten Schwanz nicht mehr hoch bekamen und einsehen mussten, dass das nichts für sie war… Und so tanzten sie weiter, weil das ihre einzige Profession sein musste… Das einzige, was sie kannten, was sie wirklich wollten… Die Momente, da im Fingerzeig eine Welt auseinanderbrach und verging, wenn man einander ansah, getrennt und dann… Anständig nur durch die Härte der Intoxikation… Für zwei halbseidene,

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