»Bringen Sie die Sachen bitte persönlich.«
»Sofort, Herr Kriminalrat.« Wilke legte den Hörer auf die Gabel und wischte mit den Händen über die Hosenbeine. Warum spielte der Herr nicht mit offenen Karten? Ihm brauchte man nicht zu erklären, wie man einen Fall vertuscht. Oder waren hier geheimdienstliche Belange tangiert? Das kann man einem doch sagen. Jedenfalls kam es darauf an, Katenkamp ein bisschen zu bremsen.
Wilke öffnete die Tür und ging mit schnellen Schritten über den Flur.
Die Schweine sollen sich außergewöhnlich ruhig verhalten haben... Katenkamp las den Satz ein zweites und drittes Mal. Nachjedem Lesen vermehrten sich die Fragezeichen in seinem Gehirn. Schließlich fragte er in den Raum hinein: »Versteht hier zufällig jemand was von Schweinen?«
Drechsler fuhr fort, einen Bleistift zu spitzen. »Jede Menge. Das ist schließlich unser Beruf.«
»Ich meine richtige Tiere; ganz normale Schweine. Es handelt sich um das gemeine deutsche Hausschwein oder Mastschwein - ich weiß auch nicht, wie man die Viecher korrekt bezeichnet. Ich weiß auch nicht, wann und warum sich Schweine außergewöhnlich ruhig verhalten.«
Drechsler prüfte die Bleistiftspitze. »Und in welchem Zusammenhang sollen die Tierchen sich nicht aufgeregt haben? Schließlich könnte das ja wichtig sein.«
»Im Zusammenhang mit einer Leichensache.« Katenkamp starrte auf die eigenwillige Handschrift in dem blau eingebundenen Notizbuch. »Die Schweine sollen sich außergewöhnlich ruhig verhalten haben«, las er laut.
»Frag doch den, der den Quatsch geschrieben hat.«
»Geht nicht. Den haben wir vorgestern beerdigt.«
»Borgfeld?«
»Genau. Es geht da um den australischen Schiffsoffizier. Borgfeld war da dran, und ich soll den Abschlussbericht zusammenstümpern. Praktisch ohne Unterlagen. Entweder war Borgfeld ein Genie an Merkfähigkeit, oder seine Aufzeichnungen sind verschüttgegangen. Mit dem, was ich hier habe, komm ich nicht zu Rande. Dabei sieht es so aus, als ob es uns gar nicht betrifft. Scheint ein Unfall gewesen zu sein.«
»Dann mach doch einen entsprechenden Bericht und lass die Schweine auf sich beruhen.« Drechsler kicherte vor sich hin. »Schweine!«
»Es interessiert mich aber, warum Borgfeld das überhaupt notiert hat.«
»Ich hätte da möglicherweise eine Erklärung«, sagte Janssen von seinem Schreibtisch her in gedehntem Hamburgisch. »Die Leiche, lag die direkt im Schweinestall?«
»Ja. Wenigstens das hat Borgfeld notiert.«
»Also, dann kann einen das schon wundern, wenn die Schweine ganz ruhig geblieben sind.« Janssen drehte sich mit dem Stuhl zu Katenkamp hin.
»Mach’s kurz«, sagte Drechsler. »Wenn du mal wieder auf deine Zeit bei der Sitte zu sprechen kommst, dann ist Gründlichkeit am Platz.«
»Selbst ein Schwein«, sagte Janssen. »Also, normalerweise machen Schweine einen Mordsspektakel, wenn jemand in den Stall kommt. Die denken dann, es gibt was zu fressen.«
»Aha.« Katenkamp nickte. »Ich verstehe.«
»Es kann aber auch sein«, fuhr Janssen fort, »dass sie besonders wild werden, wenn sie eine Leiche riechen. Schweine sind nämlich auch Aasfresser.«
»Was gibt es heute in der Kantine?«, fragte Drechsler dazwischen.
»Schweinebraten.« Janssen lächelte verschmitzt. »Geht das um die Sache da draußen in Duvenbek?«
»Ja, um den Toten in der Schweinemästerei.« Katenkamp hielt Borgfelds unergiebiges Notizbuch hoch.
»Würd ich die Finger von lassen«, murmelte Janssen.
»Warum?«
»Keine Ahnung.« Janssen gab sich gleichgültig. »Aber was die Schweine betrifft, die kriegen manchmal was ins Futter, damit sie sich nicht so aufregen und sich schön langsam bewegen. Jede Bewegung kostet Kalorien. Da wird das Futter dann schlecht verwertet. Hat was mit Wirtschaftlichkeit zu tun.« Janssen strich sich über die schütteren blonden Haare. »Genügt das?«
»Scheint so«, antwortete Katenkamp. »Wäre das nicht was für dich, wo du dich da schon ein bisschen auskennst?«
»An so was geht man besser nicht ran. Halb aufgearbeitete Fälle, das ist immer so undankbar.« Janssen erhob sich. »Ich geh jetzt mal in die Kantine. Tschüs dann.«
»Es gibt schon Gemütsmenschen«, sagte Drechsler. Er drückte die Bleistiftspitze auf die Schreibtischplatte. »Scheiße«, murmelte er, als die Spitze abbrach. »Gemütsmenschen«, wiederholteer.
»Manchmal sind sie ja nützlich, wie sich nun gezeigt hat.«
»Ansichtssache... Was hast du denn sonst noch von Borgfeld geerbt? Kann man davon was gebrauchen? Ich hab zum Beispiel gerade mein Feuerzeug verbummelt.«
»Fehlanzeige.« Katenkamp schüttelte den Kopf. »Hier hat offenbar schon jemand aufgeräumt. Es sieht aus, als ob er nie hier gewesen wäre.«
»Ist Borgfeld eigentlich besoffen gewesen?«
»Wenn ja, dann hat keiner Wert darauf gelegt, das offiziell festzustellen. Laut Protokoll ist er in einer unübersichtlichen Kurve von der Straße abgekommen. Überhöhte Geschwindigkeit bei Glatteis. Totalschaden mit Todesfolge.«
»Dann sei man vorsichtig«, meinte Drechsler. »In Ausübung des Dienstes draufzugehen gilt zwar als besonders ehrenvoll, aber für den Betroffenen macht es keinen Unterschied, ob er in seinem Schrebergarten stirbt oder auf der Dienstfahrt zu einer Schweinemästerei. »
»Auf der Rückfahrt«, korrigierte Katenkamp. »Ein kleiner Fleischgroßhandel soll auch noch zu dem Betrieb gehören. Das scheint Borgfeld imponiert zu haben. Es steht hier noch zusätzlich. Sogar unterstrichen.«
»Schade um Borgfeld. Ich finde, er war ein guter Mann.«
»Er berechtigte zu den schönsten Hoffnungen. - Erstaunlich, was manche Leute bei minus zwanzig Grad noch von sich geben können.«
»Meinst du denn, Beerdigungen sind im Sommer besser? Man kann bloß froh sein, dass man das alles nicht mehr mitkriegt.«
Drechsler drückte einen Knopf seiner klobigen Digitaluhr. »So spät schon? Dann will ich auch mal zusehen, dass ich in die Kantine komme. Aber Schweinefleisch esse ich heute nicht.«
»Dann nimm eben verseuchten Fisch!«, rief Katenkamp. Etwas zu spät. Drechsler hatte die Tür bereits hinter sich geschlossen.
Ratlos blätterte Katenkamp zum wiederholten Mal in Borgfelds Notizbuch. Je öfter er die wenigen Aufzeichnungen las, desto intensiver fragte er sich, weshalb Borgfeld überhaupt noch einmal nach Duvenbek gefahren war. Schließlich lagen die paar Häuser des Ortsteils am äußersten Stadtrand. Der Skizze nach verlief unmittelbar hinter der Schweinemästerei von Walter Reineker die Grenze zu Schleswig-Holstein. Den Weg da raus machte einer doch nicht zum Spaß. Nach den Unterlagen zu urteilen war Borgfeld dreimal in Duvenbek gewesen. Zu oft, um eine Routineangelegenheit zu erledigen.
Katenkamp legte sich einen Bogen Papier zurecht und versuchte, die Angelegenheit zu rekonstruieren.
An einem Februarabend verirrt sich der australische Schiffsoffizier William Greenbuck - der Dritte Offizier des australischen Frachters Carpentaria - in die Stallungen der Schweinemästerei Walter Reineker in Duvenbek...
Ein heftiger Sturm klatschte nasse Schneeflocken gegen die großen Scheiben der Fenster des Polizeihochhauses. Für Augenblicke bildete der Schnee einen dichten, milchigen Kristall Vorhang. Es wurde dämmrig in dem Dienstraum der Mordkommission. Dann rutschte der Schneeschleier in sich zusammen, und fahles Februarlicht fiel auf die Schreibtische.
Katenkamp spielte mit dem Kugelschreiber. Was kann einen australischen Seemann nach Duvenbek treiben? Selbst im Zustand der Volltrunkenheit verirrt sich niemand in die Gegend. Aber Greenbuck war laut Autopsiebericht nicht einmal angetrunken gewesen, geschweige denn volltrunken. Also hatte er sich auch nicht verirrt. In Duvenbek landet man nicht zufällig. Nach Borgfelds Unterlagen war Duvenbek mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu erreichen. Jedenfalls nicht ohne mehrmaliges Umsteigen. Also konnte Greenbuck nicht in einem Bus eingeschlafen und erst an der Endhaltestelle aufgewacht sein. Außerdem hätte er dann einfach Sitzenbleiben und die Strecke zurückfahren können... Nein - Greenbuck wollte nach Duvenbek. Laut Borgfelds Ermittlungen war der Mann am frühen Nachmittag von Bord gegangen. Zeuge: der Zweite Offizier der Carpentaria. Greenbuck musste mit ihm die Wache tauschen, um den Frachter verlassen zu können.
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