Spätestens hier brachen auch die Stärksten zusammen und beantworteten alle Fragen.
Vorne standen mindestens sechs Leute an der Tür, die nur darauf warteten, die beiden Männer zu durchlöchern. Sie mussten also irgendwie hinten herum. Sie schlichen sich über den Hinterhof, während Stevenson seinen Colt lud.
Luigi war verwundert über diese Torheit. Die Waffen wurden von Perpone stets geladen übergeben. Stevenson hatte sie im Laufe des Abends entladen, weil er befürchtete, dass sich die Waffe beim Tragen selbst auslösen könnte.
„Das ist völliger Quatsch. Ist mir noch nie passiert.“
Sie schlichen sich hintereinander an der Hauswand entlang und erreichten den Hinterhof. Es wehte kein Lüftchen. Sie blieben stehen und horchten in die Nacht. Stevenson nahm nur das Zirpen von Grillen war. Doch Luigi wirkte beunruhigt. Ihm war, als habe jemand seine Waffe entsichert – doch nicht Stevenson. Er hatte den Colt jetzt schussbereit in der Hand, aber woher kam dieses Gefühl?
Er spürte die Gefahr, den Lauf der Waffe, die auf ihn gerichtet war, drückte sich an die Bretterwand des Hauses und sah sich um. Plötzlich riss er in einem Sekundenbruchteil die Thompson hoch und gab drei gezielte, schnelle Schüsse ab. Ein Schrei zerriss die Stille der Nacht. Vom Windrad stürzte ein Mann aus beträchtlicher Höhe zu Boden und schlug dumpf auf einem der vier Betonsockel auf. Stevenson war entsetzt.
„Du musst die Ohren immer offenhalten und auf so was gefasst sein. Schließlich weißt du nicht, wo du bist und wie die örtlichen Gegebenheiten hier sind. Du musst deinen Instinkt schulen. Wenn du das zur Perfektion bringst, bist du genauso unschlagbar wie ich.“
Was war das nur für ein eiskalter Mensch? Stevenson hatte schreckliche Angst, auch vor Luigi. Auf dessen Geheiß nahm er die Waffe des toten Windradschützen an sich. Er war mit dem Gesicht zuerst auf dem Beton aufgeschlagen und furchtbar entstellt. Bei der Waffe handelte sich um einen baugleichen Colt, wie Stevenson ihn schon mitführte.
Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, heute Abend Leichen zu sehen. Doch er befürchtete, dass es nicht bei dieser einen bleiben würde. Beim Anblick des vielen Blutes, welches aus dem Schädel des Toten spritzte, hoffe er inständig, nicht selbst töten zu müssen oder gar getötet zu werden. War das die Alternative zu seinem Taxifahrerleben?
Er konnte nicht fliehen. Luigi hätte mit Sicherheit kurzen Prozess mit ihm gemacht. Außerdem kam ihm Nuncio wieder in den Sinn, der im Inneren des Hauses gefangen gehalten wurde und eine mafiöse Folter über sich ergehen lassen musste. Es lag auch an ihm, die Folter zu beenden und ihn möglichst schnell zu befreien. Hinter der Tür in Richtung Hof lauerten auch bewaffnete Männer.
Mittlerweile konnte man Nuncio aus dem Haus schreien hören. Luigi fluchte, ihnen lief die Zeit davon. Waren die beiden erst einmal im Haus, standen die Karten schon anders. Sie fingen an, so leise wie möglich leere Benzinfässer zu stapeln. Vielleicht gelang es ihnen, über den Balkon im ersten Stock ins Haus zu kommen. Endlich zog sich Luigi am Geländer hoch und stand nahezu im Haus. Hier oben brannte kein Licht, der Gang schien leer zu sein. Als auch Stevenson auf den Balkon geklettert war, brachen sie leise die Tür auf. Erst nach einer Minute hatten sich ihre Augen richtig an die Dunkelheit gewöhnt. Hier oben lagen die seit Jahren leeren Quartiere für Motelgäste. Ein langer Flur, von dem in unterschiedlichen Abständen an der rechten Wand Türen abgingen. Es roch staubig und abgestanden. Am Ende befand sich noch eine Tür, eine Abstellkammer oder ein WC. Luigis Aufmerksamkeit richtete sich in die andere Richtung des Korridors. Dort befand sich eine Holztreppe, die ins Erdgeschoss führte. Es war still und dunkel in den Zimmern nebenan. Von hier konnte keine Gefahr ausgehen.
„Halte hier oben die Stellung und knall jeden ab, der versuchen will, mir in den Rücken zu schießen.“
Wie versteinert sah Stevenson ihm nach. Das Blut rauschte in seinem Kopf. Hier und jetzt galt also: töte, oder du wirst getötet. So musste sich ein Soldat fühlen, der seinen ersten Kampfeinsatz erlebte. Nun, eigentlich war er Luigi dankbar, dass er ihn aus der Schussbahn nahm. Immer wieder wurde die Stille von Schlägen und Schreien im Erdgeschoss zerrissen. Luigi war jetzt unten, Stevenson konnte ihn nicht mehr sehen. Schweiß rollte ihm über die Stirn. Er hatte zum einen Angst um sein Leben, zum anderen Angst vor den Folgen seiner Straftaten, die er heute Abend ausgeführt hatte. Auf Schutzgelderpressung standen mehrere Jahre Gefängnis.
Plötzlich schien das Haus zu erbeben und eine wilde Schießerei begann. Laute Schüsse von MP Magnum sowie allerlei Arten Colt. Auch Luigis Thompson war immer wieder zu hören. Schreie, Röcheln, und immer wieder das pfeifende Geräusch von einschlagenden Kugeln in der Wand. Auf einmal öffnete sich die Tür, am Ende des Ganges. Es war tatsächlich ein WC. Schon sah sich Stevenson einem dunkel gekleideten Mann gegenüber, der seine Waffe auf ihn richtete und feuerte. Er rettete sich zunächst mit einem Sprung auf den Balkon. Ber Mann kam hinter ihm her. Was sollte er tun? Die Benzinfässer runter klettern? Er wäre tot gewesen, bevor er überhaupt die Brüstung überklettert hätte. Er zog seine beiden geladenen Colt Double X Spezial hervor und richtete sie auf den Mann, der wieder zum Schuss angelegt hatte. Stevenson kniff die Augen zusammen und drückte ab. Mit einem Rückstoß rechnete Stevenson nicht. So verzog es die Waffen beträchtlich weit nach oben. Doch als er die Augen öffnete, sah er den Mann zu Boden stürzen. Ein Blutstrom ergoss sich über den Balkon. Er hatte den Hals des Mannes durchschossen. Fassungslos starrte er auf die offene Wunde und die weit aufgerissenen Augen des Mannes.
„Mörder! Mörder!“
rief eine Stimme in seinem Kopf. Er schüttelte sich, doch das ließ sie nicht verstummen. Er blinzelte, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, hoffte zu träumen und im nächsten Moment zu erwachen. Aber es half nicht. Die Leiche vor ihm war real. Er hatte diesen Mann soeben ins Jenseits befördert. Immer gespenstischer und lauter rief seine innere Stimme ihn einen Mörder. Selbst der Tote zu seinen Füßen schien es mit zu sprechen. Seine Knie wurden weich, die Umrisse der Leiche verschwammen und er taumelte. Wie um alles in der Welt war es so weit mit ihm gekommen? Er hatte einen Menschen getötet. Wie lange würde es wohl dauern, bis er das begriffen hatte? Was für Folgen würde das haben? Ihn durchfuhren gleichzeitig völlig entgegengesetzte Gefühle: Macht und Größe, aber auch Furcht und Schuldgefühl. Stärke und im selben Augenblick wiederum Schwachheit. Dieser Gefühlscocktail war so heftig und riss ihn dermaßen hin und her, dass ihm speiübel wurde. Und immer wieder die Rufe:
„Mörder! Mörder!“
Er drohte die Besinnung zu verlieren, so stark war das Adrenalin, welches mit Gefühlen der Macht und der Angst durch seinen Körper strömte. Er verlor die Kontrolle über sich und nässte sich ein. Er bemerkte es gar nicht sofort.
Was würde seine Mutter sagen, wenn sie ihn so sehen würde? Als Gangster, Mafioso und als Mörder? Aber er hatte keine Zeit weiter darüber nachzudenken. Denn Luigi rief ihn und holte ihn aus seinem Schockzustand: „Steve! Hilf mir hier, der Kerl hinter der Theke hat eine Thompson!“
Er wankte so schnell es eben möglich war die Treppe hinunter und befand sich inmitten eines Massakers. Überall waren Einschusslöcher, Blut und Zerstörung. Es lag der Geruch von Schießpulver in der Luft. Ein bläulicher Dunst hatte das Erdgeschoss erfüllt. Es waren mindestens vier Tote auszumachen, Luigi selbst kauerte hinter einer Wand.
Sein Anzug war ruiniert, ihm selbst schien es aber gut zu gehen. Er flüsterte:
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