Nun hockt er da, immer noch schwer atmend, umgeben von Soldaten - von toten, blutenden und zerstümmelten Soldaten. Vereint mit den tapferen Mitgliedern seiner eigenen Sippschaft, die, Seite an Seite und sich gegenseitig schützend, kämpften, hieben, durchbohrten und von denen manch einer, im mutigen Kampf von einer Lanze oder einem Pfeil getroffen tot zusammenbrach oder schwer verletzt liegen blieb. So hat er tagelang und nächtelang gekämpft. Angst hatte er keine gehabt - oder doch? Blinde Wut und die Seite der Überraschung steigerte die Kampfeslust von Stunde zu Stunde und von einer Nacht zum anderen Tag. Sicher, auch wenn dieser Überraschungsangriff den Römern gleich zu Beginn herbe Verluste beibrachte, konnten sich doch viele kampferprobte Soldaten, die schließlich schon auf der ganzen Welt gefochten hatten, wacker und kraftvoll verteidigen. Am ersten Tag sah es fast so aus, als könne sich das Blatt sogar noch einmal wenden. Doch die immer wieder aus den Wäldern angreifenden Horden der verbündeten Stämme - und es wurden von Mal zu Mal mehr - ließen den Römern keine Zeit, sich zu formieren. Formation war in diesem versumpften, unwegsamen Gelände unmöglich. Hätten die römischen Soldaten mit ihren schweren Panzern und ihren Pferden besseren Halt unter den Füßen gefunden, wären Verteidigungs- und Angriffsstellungen möglich geworden, hätten die Katapulte und Speerwurfmaschinen eingesetzt werden können! Wer weiß!? Dagegen die Germanen: Mit bloßem Oberkörper - nur mit dem Schild und Schwert bewaffnet - waren sie auf dem morastigen Boden viel wendiger; konnten die Reiter auf ihren strauchelnden Pferden umlaufen und sie mit der Lanze erstechen oder aber zumindest solch schwere Verletzungen zufügen, dass sie von ihren Pferden stürzten. Auf der Erde liegend hatte dann der Soldat keine Möglichkeit mehr, sich zu wehren.
Wulfila hat mit vielen Römern gekämpft. Mutige, starke aber auch schwache Soldaten haben mit ihm das Schwert gewetzt. Wulfila war der Sieger aller Kämpfe. Wie viele es waren, kann er nicht mehr nachvollziehen. Seine Arme wurden von Hieb zu Hieb immer schwerer. Auch musste er sich immer wieder auf Baumstümpfen oder aber auf einem der toten Pferde ausruhen, um neue Kraft zu schöpfen. Aber die Abstände zwischen den Zweikämpfen wurden immer länger und dann kam der Zeitpunkt, wo sie ganz abflauten, bis man nur noch hier und da Schreie von verletzten Kämpfern hörte. Ob es nun die der eigenen oder aber die der geschlagenen Kämpfer waren - wer konnte es wissen? Wulfila sollte mit den Angehörigen seiner Sippe Seite an Seite kämpfen, so wollte es Hermandum. Der Bruder seines Vaters - wie alle Männer dieser Familie ein Hüne mit derbem, kantigem Gesicht, doch freundlich blinzelnden, blassgrauen Augen - führte die Gruppe an. Bei ihm dessen drei Söhne, dem Vater fast wie aus dem Gesicht geschnitten; sie alle kämpften vereint mit den Brüdern, Onkeln und Väter derer Familien. Nicht selten wurde manch gefährliche Situation durch ein anderes Familienmitglied gelöst. Die sonst so geordneten, kampferprobten Römer schlugen in panischer Angst wild um sich und nicht selten griffen sie hinterrücks in Zweikämpfe ein, um ihrem Kameraden zur Seite zu stehen. Genau dies taten die verbündeten Familien auch! Wulfilas Sippe bekam den Auftrag, auf der kleinen Lichtung unweit des Hügels, auf dem Hermandum nun stand, die verdutzten Römer in die Zange zu nehmen. Man wartete, bis ein Großteil des Trosses an ihnen vorüber war und fiel diesem dann in den Rücken, wohl wissend, dass auf der anderen Seite des Waldes neue Kohorten nachrückten, die aufgrund der nun immer lauter werdenden Kampfgeräusche versuchten, seitlich aus den Wäldern hervor zu brechen. Aber dort standen die Chatten und warteten. Ein Rückzug war mit den schweren Wagen, Tieren und dem ganzen Tross auf den schmalen Wald- und Feldwegen nicht möglich! Wenn es denn überhaupt Wege gab! Der verzweifelte Kampf begann! Varus gab den Befehl, dass alle Wagen, mit denen die Vorräte transportiert wurden, zu verbrennen seien, damit sie nicht den Barbaren in die Hände fielen.
Tote gab es auch um Wulfila herum. Nicht nur Römer, auch Sippenmitglieder lagen dort in ihrem Blut. Doch beklagt wurden sie von den Männern nicht! Denn sie hatten es geschafft! Odin würde diese Opfer wohlwollend annehmen. Wenn die kampfesmüden Krieger sich erholt haben würden, würde jeder einzelne Tote zu seiner Familie gebracht, um dann, seiner Stellung in der Sippschaft entsprechend, würdig bestattet zu werden. Und eine würdige Bestattung bekam ein jeder. Trotzdem waren Lücken in die Familien gerissen worden, die - wenn überhaupt - nach einigen Jahren erst wieder geschlossen werden könnten.
Schwer geht Wulfilas Atem. Nun kauert er neben seinem letzten Gegner. Es muss wohl ein gleichaltriger oder ein wenig älterer Römer gewesen sein. Aber diese Gedanken kommen ihm erst viel, viel später, als er dem Römer den Helm vom Kopf zieht, um seinem Schwert freie Bahn zum Hals des Besiegten zu geben. Dunkle, kurz geschnittene, wenn auch blutdurchtränkte Haare kommen zum Vorschein. Das Gesicht - sicherlich einmal schön und markant - ist mit Hieb und Stichwunden übersät. Die größte Wunde aber hat der Soldat, der wohl schon eine höhere Position in der Hierarchie der Legion inne gehabt haben muss, am Hals. Wulfila hat sie ihm zugefügt. Verbissen haben beide gekämpft, bis der junge Römer rücklings über eine Wurzel stolpert und strauchelt. Wulfilas Schwert folgt der fallenden Bewegung seines Gegenübers. Eigentlich sollte der Hieb den Kopf treffen. Doch die Kraft versagt ihm und es wird nur ein Schnitt. Ein todbringender Schnitt durch die Halsschlagader. Mit schreckengeweiteten Augen lässt der Soldat daraufhin sein Schwert fallen und greift sich an den Hals. Im Rhythmus des Herzschlages pulsierend dringt das Blut durch die zusammengepressten Finger. Der junge Römer schaut mit glasigen Augen in den immer dunkler werdenden, von Wolkenfetzen durchfurchten Himmel. Langsam gleitet sein Blick zu Wulfila, der immer noch mit ausholender Gebärde sein Schwert kreisen lässt. An Wulfila vorbei starrt er nun in die Wolkenfedern, als sähe er dort Gestalten ihm zuwinken. Ein leichtes Zucken geht über sein Gesicht, so, als habe er eine Frage nicht verstanden oder aber so, als wolle er lächeln. Seine Lippen beginnen sich zu bewegen. Wulfila kann diese Worte nicht verstehen. Obwohl er weiß, dass diese Römer, die sein Land unterdrücken, sich mit ganz anderen Lauten verständigen als er und seine Familien, beugt Wulfila sich langsam, auf sein Schwert gestützt, zu dem im Todeskampf liegenden Soldaten herunter. Plötzlich ergreift der Römer Wulfilas Arm. Wulfila wundert sich noch über die Kraft dieses jungen Mannes und will schon wieder aufspringen, um mit einem Hieb diesem Treiben ein Ende zu machen, da spürt er, wie dieser erst so feste Griff sich lockert und fast streichelnd vom Oberarm bis zum Handgelenk herabrutscht. Sind dies Tränen in den Augen des Römers, die das Dunkelrot des Blutes in seinem Gesicht nun zu hellen Bahnen werden lassen? Die Hand des Soldaten rutscht von Wulfilas Handrücken herab und schlägt mit einem klatschenden Geräusch auf die gepanzerte Brust. Die Augen der beiden Kontrahenten treffen sich wieder. Als ob er seinem Bezwinger etwas mitteilen will, klopft der Römer nun ungelenk auf seinen Brustpanzer, da ihn seine Kräfte immer mehr zu verlassen scheinen. Mit dem Zeigefinger deutet er immer wieder, erst heftig, dann langsamer werdend, auf den Brustpanzer, die Augen immer auf Wulfila gerichtet in der Hoffnung, aus dessen Augen eine Bestätigung zu erhalten, dass dieser die Geste verstanden habe. Doch Wulfila sieht nur, immer noch kurzatmig, in diese dunklen, weinenden Augen. Was für ein Kämpfer! denkt Wulfila. Ein Kämpfer, der weint! Wie konnten die Römer mit solchen Weichlingen nur so stark werden?! Fast zufällig gleitet sein Blick über den blut- und dreckverschmierten Panzer hin zu dem immer noch auf die rechte Brust deutenden Finger. Dies waren eigentlich schon keine Bewegungen mehr. Der Finger klebte fast schon auf dem Eisen und bog sich nur noch, bis er abrutschte und die Hand seitlich in den Morast glitt. Wulfila blickt zurück in die leeren Augen, die durch ihn hindurchzublicken scheinen. Er steht mühsam auf. Die Wunden am Arm und an den Beinen und die vielen kleinen Schnitte auf der Brust und dem Rücken haben ihn doch wohl zu sehr geschwächt. Jetzt, wo ihn die Kampfeslust und -wut nicht mehr so sehr stärkt, merkt er doch, wie unendlich müde er ist. Mit hängenden Armen steht er dort, in der einen Hand den Helm des Besiegten und in der anderen sein Schwert - den Schild hatte er schon in den Kämpfen, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, einfach weggeworfen. Der Schild hatte dabei noch einen letzten Zweck erfüllt - einem auf dem Boden kriechenden römischen Soldaten, den Wulfila zuvor vom Pferd gerissen hatte, schlug er mit der Schildkante das Genick ein und ließ den Schild dann, wie ein Leichentuch, auf ihm liegen, um sich anderen Gegnern zuzuwenden.
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