Er hat das Turnier gewonnen, hättest du antworten müssen. Mehr weiß ich nicht.
Du Arme, dass muss ja alles schrecklich für dich gewesen sein, hätte sich Tanja sicherlich empört, hätte sie davon gewusst. Und seit dem Gespräch mit Haas, hättest du noch hinzufügen müssen: Kirill hat nach dem Turnier seine Eltern verloren. Aber auch das behieltest du für dich.
Erst als Tanja sich deutlich räusperte, stahl sich dein Traum davon. Du starrtest Tanja mit großen, fragenden Augen an.
„Weißt du Vitti (manchmal endeten ihre Verniedlichungen in der Absurdität von Wortbabys, die dich manchmal bis zur Weißglut brachten), was du dir eigentlich mit diesen Aktionen beweisen willst. Du willst dir beweisen, dass du niemanden brauchst. Und alles alleine schaffst. Oder?“
Du wandest dich von Tanja ab und kugeltest deinen Körper wie ein kleines Mädchen, das sich in den Schlaf weint. Sei es aus Scham oder Traurigkeit. Tanja streichelte dein Haar und sagte leise:
„Armes Vittilein, deine kleine Seele musste schon so viel ertragen. Pass auf, dass du sie nicht überforderst und sei vorsichtig mit dem was du tust.“ Sie umschlang dich und gab dir einen Kuss auf die Stirn. Ihre Lippen waren warm.
„Stell dir vor, dieser Mensch lockt dich nur deshalb in seine Hütte, weil er dich vergewaltigen will.“
„Dann hätte er mir wohl kaum vorher geschrieben“, murmeltest du in deiner Fötusstellung, froh das Thema wechseln zu können. „Erstens: ist seine Vorgehensweise für einen Vergewaltiger höchst unlogisch, zweitens: hat er keine Ahnung, wie ich überhaupt aussehe. Und drittens: weiß ich mich zu wehren. Außerdem fahre ich ja nicht allein dorthin.“
„Trotzdem traue ich dem Ganzen nicht. Du bist bisweilen ein bisschen naiv, meine Liebe. Am liebsten würde ich mitkommen, ich habe blöderweise Susanne versprochen, mit ihr nach Carwitz zu fahren.“ Auch wenn Tanja nicht anderweitig beschäftigt gewesen wäre, konntest du über diesen Gedanken nur müde lächeln. „Wie sieht er überhaupt aus, dieser Fabian Leuttner.“
„Wie ein kleiner Junge in einem zu großen Anzug...“
„Du bist total verrückt. Weißt du das?“ Tanja schüttelte den Kopf und seufzte.
„Du fährst mit einem Kind zu einem Psychopathen, um dessen Geschichte zu hören.“
„Oh ja!“
„Was soll ich dazu sagen? Du musst wissen, was du tust.“ Tanja zwirbelte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger, zog sie in die Länge und betrachtete besorgt zwei kleine Abspaltungen.
„Wie spät ist es eigentlich?“
„Sieben Uhr!“
„Verdammt, ich muss gehen.“, sagte Tanja und ordnete sich ihr Haar. „Der Typ mit dem ich heute verabredet bin, redet den ganzen Abend nicht mehr mit mir, wenn ich auch nur eine Minute zu spät komme. Und morgen werde ich zum Frisör gehen und mir die Haare schneiden lassen. Was meinst du, wie ich mit kurzen Haaren aussehe?“
Als du allein warst, überschlugst du, aufgewühlter als dir lieb war, noch einmal den Brief von Hapke. Die Handschrift war dir nicht unangenehm, im Gegenteil. Dieser Mann hatte eine Art, die Wörter hintereinander zu malen, die dir einige Bewunderung abverlangte. Die Anfangsbuchstaben waren durch allerlei Filigranes hervorgehoben, jeder Buchstabe bildete eine exakte Linie zu seinem Nachbarn, und die Kurven, Schnörkel oder Striche waren, jeder für sich gesehen, so etwas wie kleine graziöse Gemälde. Er zeichnete seine Worte, als vermittelten sie keine Botschaft, sondern in erster Linie Ästhetik.
Tanjas schroffe Vorbehalte konntest du nicht teilen, dazu warst du zu neugierig, aber so unbekümmert, wie du es ihr gegenüber demonstriertest, warst du beiweiten nicht. Die Vergangenheit Hapkes, die Gier von Haas ihm irgendein Geheimnis zu entlocken, die Wunderlichkeit, dass Hapke gerade dir geschrieben hat, war bestimmt Zufälle, die nichts miteinander zu tun hatten, dachtest du. Aber was, wenn es doch keine Zufälle waren? Hapke hatte den Unfall verursacht, hatte Haas gesagt. Was bedeutete das?
„Was macht es schon, ob ich diesen Menschen kenne oder nicht. Was geht mich seine Vergangenheit und die Ambitionen anderer an. Dieser Mann möchte mir etwas sagen. Und möglicherweise weiß er, wo ich Kirill finden kann“, sprachst du laut in deine Wohnung hinein, doch weiter kamst du nicht, denn es klingelte. Bereits an dem lauten eindringlichen Klingeln erkanntest du, wer vor der Tür stand und öffnetest entsprechend fröhlich.
„Niemand in diesem Haus vermag es besser, mich zu verblüffen als du“, begrüßte dich Paul und trat ein, wie er es immer tat. Sein Blick huschte an dir vorbei ins Innere der Wohnung und tastete jeden Gegenstand nach einer möglichen Veränderung ab.
„Keiner weiter da?“
„Nein, Paul. Wie du siehst!“ Paul betrat das Wohnzimmer wie ein Rüde, der sein Revier absteckte. Fehlte eigentlich bloß noch, dass er ein Bein hob und die Wände markierte.
„Aber ich rieche Parfüm, welches zweifelsfrei nicht von deinem Sortiment herrührt. Riecht wie „Dolce Vita“ von Dior.“
„Es ist Chanel Nr.5, mein kleiner olfaktorischer Taugenichts. Tanja war hier. Sie ist vor einer Viertelstunde gegangen.“
„Bedauerlich, bedauerlich. Ich hätte gern an unser letztes Gespräch über Intuition und Schwerstarbeit in der Kunst angeknüpft. Sehr intelligent diese Frau, hat aber leider eine starke Neigung zu esoterischem Firlefanz. Verleiht ihr durchaus Flair, trägt aber zu Leichtgläubigkeit bei. Aber für dich würde sie sich, glaube ich, steinigen lassen.“
„Eines Tages wirst du dich in sie verlieben, und ihr die noch vorhandenen Lücken ihrer Weisheit stopfen, mein kluger Freund. Habe ich recht?“
„Nur bedingt.“
„Was willst du?“
„Dich! In meinem ganzen Leben wollte ich immer nur dich. Aber du verschmähst mich. Was bleibt mir da anderes übrig, als mich in eine andere Frau zu verlieben oder den Freitod zu wählen. Könntest du dir vielleicht vorstellen, mich heute Abend ins Kino zu begleiten? Es gibt einen neuen Film über die Schwierigkeit des Sterbens. Sehr lustbetont, wie ich finde.“
„Nein Paul. Ich habe mir für heute Abend vorgenommen, meine Erinnerungen zu ordnen. Dies kann ebenfalls sehr lustbetont sein“, sagtest du mit zweideutigem Lächeln.
„Du denkst an unsere einzige gemeinsame Nacht?“
„Nein, ausnahmsweise nicht. Wobei es sich natürlich lohnen würde, darüber nachzusinnen. Schließlich hast du auf der ganzen Linie versagt.“
„Pah, ich war zu aufgeregt. Welch unschuldiger Junge schafft es schon, sein Traumbild in vergängliche Körperlichkeit zu übertragen? Nur ein Narr. Doch ich bin ein Poet.“
„Gewiss. Aber im Bett taugst du nun einmal nur für Gute- Nacht- Geschichten.“
„Du solltest mir noch einmal eine Chance geben. Manch hoffnungsfroher Bräutigam versagt in der Hochzeitsnacht, und wird später zu einem Tiger im Bett.“
„Sollte mir mit fünfunddreißig noch immer kein Tiger über den Weg gelaufen sein, komme ich auf dein Angebot zurück. Doch bis dahin, fürchte ich, wirst du dich wohl oder übel gedulden müssen. Aber mal im Ernst: Was willst du?“
„Wie ist es gelaufen? Ich meine natürlich deine heutige Verhandlung in Bezug auf den eigenen Idealismus und dessen Umsetzung in Gold. Was hat dir Haas geboten, damit du für ihn das Lockvögelchen spielst?“
„Erst tausend, dann zweitausend Mark. Dabei habe ich nicht eine Sekunde verhandelt.“
„Schlecht, sehr schlecht. Du hättest gut und gerne das Doppelte herausschlagen können.
Mindestens.“
„Du weißt, dass es mir nicht ums Geld geht.“
„Aber du hast es ebenso nötig wie wir alle, die wir von unseren Träumen leben. Außerdem ist Haas ein ziemlicher Geizkragen. Der bunkert irgendwo Millionen und rührt dafür keinen Finger.“
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