Das war für Katrin zu viel. Das bedeutete ja, dass dieser Patient auf dem gleichen Stuhl gesessen hatte wie sie... Dass er die gleichen Dinge angefasst hatte... Womöglich direkt vor ihr in der Praxis gewesen war... Danach dauerte es nicht mehr lange: Zuerst wurden Termine wegen Verspätungen verkürzt. Dann wurden Termine wegen verschiedener Gründe immer mal wieder abgesagt. Und dann? Dann sagte Katrin schließlich ihre Termine bei dem Therapeuten ganz ab.
Sonntag, 8. Juli 2007 – Flohmarktsorgen, Sorgenflohmarkt
Wie sah sonst unser Tag aus? Dafür vielleicht eine kleine Rückschau auf den heutigen Sonntag:
09:15 Uhr: Niklas wird wach. Katrin holt ihn in unser Bett
10:40 Uhr: Frühstück
12:25 Uhr: Abfahrt zu einem Flohmarkt. Eigentlich war 11:45 Uhr als Abfahrtszeit geplant, aber das Kücheputzen hat länger gedauert. Es ist der Jahresflohmarkt in einer benachbarten Stadt. Mit kleinem Zirkus. Mit wenigen Händlern und immer so viel zu sehen. 20 Minuten fährt man in die Stadt. Und dann gilt es, noch einen Parkplatz zu finden.
15:00 Uhr Rückkehr vom Flohmarkt, Ankunft zuhause.
15:27 Uhr Katrin hat das Duschen von sich und von Niklas beendet. Um des lieben Friedens willen, gehe ich nun auch unter die Dusche.
Ja, wir waren auf einem Flohmarkt! Wir waren gemeinsam unterwegs, draußen und unter Menschen. Das ist doch eine tolle Sache für eine Zwangskranke mit den Sorgen meiner Frau! Überall alte, dreckige Sachen und Katrin geht mit mir dorthin!
Nun, ganz so schön war es nicht. Die Geschichte war die: Beim gemeinsamen Gang über den Flohmarkt ist Niklas auf dem Kopfsteinpflaster hingefallen und war wohl mit seiner Hand mitten über eine Vogelfeder gerutscht. Katrin hat die Vogelfeder gesehen. Mir ist sie nicht aufgefallen. Ich habe Niklas natürlich nur einfach die Steinchen von seiner Hand gewischt, war zufrieden, dass die Hand nicht aufgeschürft war und nahm ihn danach wieder an meine Hand.
Für Katrin muss dies der Horror gewesen sein. Aus ihrer Sicht eine reine Provokation von meiner Seite: Kein wirkliches Abwaschen nach dem Stolpern. Dann habe ich auch noch ein gebrauchtes Buch gekauft. Und dann auch noch Niklas getragen!
Nach dem Duschen war Putzen angesagt. Aus Katrins Sicht musste alles, wirklich alles geputzt werden. Erst als die Anspannung sich langsam verflüchtigte nachdem alle relevanten Flächen geputzt waren, kamen die Tränen. Es muss für Katrin unglaublich anstrengend sein. Nicht nur einfach körperlich. Schließlich ist sie ja auch mitten in der Schwangerschaft. Nein, auch wegen der notwendigen hohen Konzentration, die sie aufbringen muss. Damit sie nichts weiter mit kontaminiertem Putzmitteln anfasst, was sie vielleicht im Anschluss vergisst, neu zu säubern. Sie ist nun vollkommen fertig. Katrins Weinen tut mir zwar weh, aber ich hoffe, dass es dabei hilft, dass sie in kleinen Schritten auch selbst die Not erkennt, in der sie steckt. Nicht nur wegen der Schwangerschaft. Einfach wegen ihr. Katrin tut mir so furchtbar leid. Herzzerreißend kling abgedroschen. Aber es genau das: Ich bin hin- und hergerissen. Zwischen helfen und nicht helfen. Alle Aktivitäten einstellen, oder „normal“ weitermachen. Aber wegen dieser Anstrengungen, wegen dem Putzwahnsinn gänzlich auf derartige Ausflüge verzichten? Solche Ausflüge gar nicht mehr anbieten?
Ich bin stolz darauf, dass sie das Risiko des Besuchs des Flohmarktes eingegangen ist. Ich hoffe, dass dies auch in Zukunft so bleibt.
Lebenswunsch – der Wunsch nach Leben
Ja wir sind schwanger. Ein wirkliches Wunschkind. Wir hatten gemeinsam den Wunsch nach einer größeren Familie. Nicht nur einfach Mutter, Vater und ein Kind. Niklas sollte kein Einzelkind sein. Wir wollten ein zweites Kind. Im Nachgang vielleicht schwer zu verstehen, aber obwohl wir nun von der tatsächlichen Existenz einer psychischen Krankheit meiner Frau wussten und diese noch längst nicht geheilt war, wollten wir unseren Wunsch nach einem zweiten Kind nicht weiter aufschieben.
Doch eine Schwangerschaft mit gleichzeitiger Medikamenteneinnahme? Eine kurze Online-Recherche hatte schon gezeigt: Psychopharmaka und Schwangerschaft? Da gibt es wenig belastbare und vor allen Dingen keine rein positiven Daten. Also haben wir gemeinsam entschieden, dass Katrin das damalige Medikament absetzt. Die möglichen Nebenwirkungen des Medikaments während der Schwangerschaft wären nicht vorhersehbar gewesen. Was für Diskussionen! Was für weitreichende Entscheidungen! Ein Menschenleben verhindern, um die eigene Krankheit – mit mehr oder weniger großem Erfolg – zu therapieren?
Das Absetzen und damit die geplante Schwangerschaft waren aus heutiger Sicht im Hinblick auf die Krankheitsentwicklung unglaublich große Fehler. Diese Komplikationen mit der Zwangserkrankung während der Schwangerschaft! Aber unser zweites Kind? Wird es das nicht wert sein? Aber später ist man immer klüger. Und wer weiß... vielleicht wird ja doch alles gut?
Nachdem die zwanghaften Putz- und Waschrituale mit dem Absetzen des Medikaments erst noch minimiert vorhanden waren, haben sie sich im Laufe der Schwangerschaft immer weiter verstärkt.
Schließlich konnte ich – mit Hilfe von Katrins Eltern Bettina und Rainer, Katrin dazu bewegen, dass sie erneut eine Therapie begann. Diesmal nicht über die Psychiaterin in der Stadt, sondern über einen Kontakt von Bettina, meiner Schwiegermutter. Sie kannte noch einen Professor. Professor Fölkner behandelte vor vielen Jahren bereits Bettina wegen ihrer eigenen Zwangserkrankung.
Zwangserkrankung? Meine Schwiegermutter? Ja, richtig. Ich hatte mittlerweile während eines Schwiegersohn-Schwiegervater-Spaziergangs erfahren, dass Katrin nicht die Erste in ihrer Familie mit Zwängen war. Schon Bettina entwickelte eine Zwangserkrankung und litt unter ihren Zwängen. Auch sie hatte Angst vor tödlichen Krankheiten und legte in den ersten Jahren der Ehe mit Rainer ein besonders großes Hygienebedürfnis an den Tag.
Rainer erzählte mir von den 80er Jahren. Von Nächten in Hotels, in denen er Mücken jagen musste. Nein, nicht weil sie nervende Stiche verursachen könnten. Er sollte die Mücken töten, damit Bettina und er nicht an der „möglicherweise über Mückenstiche übertragbaren Krankheit AIDS” erkranken können... Heute ist Bettina „eingestellt”. Sie nimmt regelmäßig ein Medikament. Damit lebt sie wohl größtenteils frei von Symptomen. Zumindest sind selbst für einen nicht mehr ganz so Außenstehenden wie mich keine Symptome mehr sicht- oder erlebbar. Die Krankheit ist dabei für niemanden ein Thema. Selbst ihre engsten Freunde wissen nicht Bescheid. Die Kernfamilie hat sich darauf verständigt, dass niemand etwas über die Krankheit zu erfahren hat.
Aber auch mit Hilfe von Professor Fölkner ist Katrins Therapie bis heute noch nicht wirklich losgegangen. Alles dauert. Der erste Termin bei Professor Fölkner liegt nun schon zwei Monate zurück. Die Zeitaufwand ist bei jedem Besuch riesig: 60 Minuten Autofahrt hin, und 40 Minuten außerhalb der Rushhour zurück. Ob sich das lohnt? Sollten wir vielleicht nicht jemand anderen suchen? Aber Katrin vertraut ihrer Mutter. Ich muss ihm auch vertrauen. Ich sollte ihm vertrauen...
Am 8. Mai, also heute vor genau zwei Monaten, war die geäußerte Meinung von Professors Fölkner: Die Therapie kann nur gemeinsam mit Medikamenten gestartet werden. Die medikamentöse Behandlung wiederum könne erst nach der Geburt gestartet werden.
Nach der Geburt? Das sind noch vier Monate! Wir haben im September Geburtstermin! Akute Hilfe? Nein. „Akute Hilfe ist in ihrem Fall nicht möglich“. Eine Therapie ohne begleitende Medikation? „Eine psychotherapeutische Therapie ohne begleitende Medikation? Nein, nicht durchführbar.“ Professor Fölkner war da sehr deutlich. Die Angst, die Furcht des Patienten, in diesem Fall von Katrin, wäre zu groß, um die Therapie durchstehen zu können.
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