Am nächsten Morgen verabschiedete sie sich von ihren Kollegen.
Das Buch ‚Der Alchimist‘ muss irgendwie verhext sein. Seitdem sie es gelesen hatte, waren nur noch seltsame Dinge geschehen. Erst der wiederkehrende Traum. Dann der Einbruch.
Das einzige Bedürfnis, dass sie bis vor ein paar Wochen gekannt hatte, war es, zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf zu haben. Solange sie genug Geld zum Leben gehabt hatte, war sie recht zufrieden gewesen.
Selbst wenn ein Tag dem anderen glich, mit eintönigen Stunden, die sich zwischen Sonnenauf- und Untergang dahinschleppten, so hatte sie bisher doch recht gut gelebt. Ihre Eltern hatten sich immer gewünscht, dass sie einmal Bankkauffrau wurde, worauf eine einfache Familie Grund hatte, stolz zu sein. So hatte sie eine Banklehre gemacht. Und schließlich eine Anstellung bei der größten Bank im Vorort Málagas gefunden.
Die junge Frau beneidete jene Frauen und Männer, die ständig auf Reisen waren, ob als Händler oder Seefahrer. Sie merkte, dass sie dasselbe tun konnte. Niemand würde sie daran hindern, wenn sie morgen Spanien verlassen würde. Nichts hielt sie zurück außer ihrer Angst. Dann dachte sie daran, was ihre Kollegen gesagt hatten, als sie gehört hatten, dass sie bereit war, alles aufzugeben, nur wegen eines Traumes. Sie hatten sie ausgelacht. Genau wie der Einbrecher.
Noch in derselben Nacht packte die junge Frau ihren Rucksack. Sie wollte so bald wie möglich nach Ägypten. Sie würde alleine reisen. Mit den Büchern an ihrer Seite, würde ihr sicher nicht so schnell langweilig werden.
Die junge Frau schaute zum Meer hinüber. Sie hatte den Eindruck, dass das Meer alles verstand, was sie dachte. Es war als ob eine geheimnisvolle Verbindung sie verband.
Das Buch über Alchimie, mit dem zerrissenen Einband, welches sie gekauft hatte, musste sie weglegen. Denn sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Mit einem Mal überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. In dieser Nacht träumte die junge Frau wieder von den Tempeln.
Am nächsten Tag ging sie aufs Präsidium, um eine Täterbeschreibung abzugeben und Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. Danach kaufte sie sich das Flugticket nach Kairo.
Am Abend setzte sie sich ans Meer. Es herrschte starker Wind. Die Wellen waren voller Schaumkronen.
In drei Tagen ging ihr Flug. Von Kairo aus würde sie den Bus nach Luxor nehmen. Das war günstiger als einen Direktflug nach Luxor zu nehmen.
Es war Vollmond. Die junge Frau blieb den Rest des Abends auf dem Felsen sitzen, blickte über das Meer und lauschte seinem Rauschen und das Meer lauschte ihrer Angst. Beide sprachen sie dieselbe Sprache.
Von hier oben hatte sie einen guten Überblick über Málaga und die Meeresenge von Gibraltar in der Ferne. Da bemerkte sie den Falken, der über ihrem Kopf seine Runden zog.
Ein paar Meter weiter südlich am Meer saß der Araber. Er hatte ein Pferd dabei. Er betrachtete den Vollmond. Wie gerne hätte er nach dem Elixier des ewigen und glücklichen Lebens gesucht. Doch die Zeichen sagten ihm, es sei noch zu früh dafür. Erst musste er seine Aufgaben erledigen.
Er überlegte, warum die Menschen sich so schwer damit taten, den Zeichen zu folgen. Doch er kam zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Vielleicht hatten sie es verlernt, auf ihre Intuition zu hören. Dann beschloss er sich wieder auf die praktischen Dinge zu konzentrieren.
Er wusste, dass er in diesen Tagen auf eine Frau treffen würde, der er einen Teil seiner Geheimnisse anvertrauen sollte. Die Zeichen hatten es ihm bereits vorausgesagt. Er kannte diese Frau zwar noch nicht, doch seine erfahrenen Augen würde sie sogleich erkennen, wenn er sie zu Gesicht bekam. Er hoffte, dass sie auch eine so gelehrige Schülerin sein würde, wie sein letzter Schüler.
Die junge Frau begann in dem Buch über Alchimie zu lesen. Dort gab es ein Kapitel über Träume. Sie hatte eine Taschenlampe dabei, denn das Mondlicht reichte nicht aus, um zu lesen. Als sie sich endlich konzentrieren konnte und in die Lektüre vertieft hatte, nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr.
Plötzlich vernahm sie ein Donnergrollen und sie wurde von einem Windstoß von ungeahnter Kraft zu Boden geworfen. Um sie herum war eine riesige Staubwolke, die den Mond verdeckte.
Vor ihr tauchte ein schwarzes Pferd auf, das ein unheimliches Wiehern ausstieß. Die junge Frau konnte kaum etwas erkennen. Aber eine Angst überwältigte sie, wie sie sie noch nie gekannt hatte.
Der fremde Reiter war ganz in schwarze Gewänder gehüllt. Er trug ein schwarzes Tuch um den Kopf, das nur die Augen frei ließ. Seine Ausstrahlung war stärker, als die aller Personen, die sie kannte. Der Reiter zog sein gebogenes Schwert, das am Sattel befestigt war, hervor. Der Stahl leuchtete im Mondlicht auf.
„Wer wagt es, mich herauszufordern und Träume deuten zu wollen?“, fragte er mit einer gewaltigen Stimme, die zwischen den hunderttausend Häusern von Málaga widerzuhallen schien.
Der jungen Frau hatte es vor Schreck die Sprache verschlagen. Sie brauchte einen Moment um ihre Stimme wiederzufinden.
„Ich wage es“, sagte sie.
„Warum?“
„Um Träume zu deuten, muss man die Alchimie beherrschen. Das steht in dem Buch geschrieben. Also muss ich die Alchimie lernen.“
"Wer bist Du, um Träume deuten zu wollen?"
"Eine Suchende. Ich muss nach Ägypten."
„Wozu?“, fragte der geheimnisvolle Reiter.
„Ich hatte einen wiederkehrenden Traum von einem Schatz, der in Ägypten liegt." Sofort bereute sie es, den Schatz erwähnt zu haben.
Doch der Araber schwieg.
Die Hand mit dem Schwert senkte sich langsam herunter bis die Schwertspitze die Stirn der jungen Frau berührte. Sie war so scharf, dass ein Blutstropfen heraustrat.
Die junge Frau blieb unbeweglich.
Der Reiter ebenfalls.
„Wer bist Du um das von Gott vorbestimmte Schicksal ändern zu wollen?“
„Ich habe lediglich gesehen, was Gott mir mitteilen wollte. Gott hat das Meer gemacht und die Sterne. Gott hat die Träume erschaffen. Alles wurde von derselben Hand erschaffen. Ich hatte einen seltsamen Traum.“ Und ohne es zu wollen, erzählte sie dem Fremden von ihrem Traum.
Langsam entfernte der Reiter die Schwertspitze von ihrer Stirn.
Die junge Frau fühlte sich erleichtert, aber sie vermochte nicht zu fliehen.
„Sei vorsichtig mit der Traumdeuterei. Nur die wenigsten können die Sprache der Zeichen richtig deuten.“
„Ich sah lediglich einen Ort, an den ich gehen muss, nicht aber den Ausgang des Traumes“, fügte sie rasch hinzu.
Nun schien der Reiter zufrieden mit der Antwort. „Wenn Du morgen um dieselbe Zeit immer noch nach einem Schatz suchst, dann besuche mich“, sagte der Araber. Dieselbe Hand die das Schwert geschwungen hatte, schwang jetzt eine Peitsche.
„Wo soll ich Dich besuchen?“, rief die junge Frau hinter dem entschwindenden Reiter her. Die Hand mit der Peitsche zeigte gen Süden. Und der Reiter verschwand. Die junge Frau war dem Bruder des Alchimisten begegnet.
Am folgenden Abend, noch bevor der Mond aufging, erschien die junge Frau am Ufer, an derselben Stelle, an der sie am vorigen Tag den fremden Reiter getroffen hatte. Sie ging in Richtung Süden. Dort gab es nur einen Hütte. Es musste die Hütte des Arabers sein. Sie wartete ein bisschen bis dieser mit dem Falken auf der Schulter angeritten kam.
Er hatte ein zweites Pferd dabei. „Nun zeig mir das Gold von Spanien“, sagte der Fremde. „Nur wer Mut und Ausdauer beweist, kann Schätze finden.“
Sie ritten am Ufer entlang, das vom Vollmond beleuchtet war.
‚Ich weiß nicht ob ich Gold finden werde. Ich habe noch nie von Goldvorkommen in Spanien gehört‘, dachte die junge Frau. ‚Außerdem kenne ich die Region außerhalb von Málaga kaum.‘ Doch sie sprach es nicht aus, denn sie fürchtete sich vor dem Araber.
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