An diesem Ort gab es die höchste Schamanendichte. Gerne hätte er sich mit einem der sudanesischen Schamanen unterhalten. Doch es war schwer, sie aufzufinden. Sie hielten sich nie in den Städten auf. Die meisten versteckten sich in den Gebirgen oder in der Wüste. Schüsse durchzogen die Nacht. In der Ferne waren Kampfesrufe zu hören.
Als er die Angst in den Augen der jungen Frau sah, sagte er. „Vergiss nicht, dass die Dinge, die uns am gefährlichsten erscheinen, uns am meisten voran bringen. Ein Lebensweg will immer erfüllt sein. Deshalb wird derjenige, der den Zeichen folgt, vom Universum auch immer dafür belohnt. Das nennt man das Anfängerglück.“ Und er schloss mit dem geheimnisvollen Wort:
„Inschallah.“
„Was heißt das?"
„So Gott will."
In dieser Nacht schlief die junge Frau unruhig. Wirre Träume jagten sie.
Die Reisenden brachen noch vor dem Morgengrauen auf. Flussabwärts waren neue Kämpfe entflammt. Man konnte den Nil nur frühmorgens oder spät abends im Schutz der Dunkelheit befahren.
Tagsüber sei es zu gefährlich, das behaupteten die Südsudanesen, die ihnen entgegen kamen.
Der Alte saß am Bug. Die junge Frau betrachtete die ausgefallene Kleidung, die jener trug. Er sah wie ein traditionell gekleideter Araber aus, was in dieser Gegend keine Seltenheit war. Obwohl der Süd Sudan überwiegend christlich war, lebten dennoch viele Nordsduanesen im Süden.
Ihnen begegneten geheimnisvolle Kapuzenmänner, die wie Klu-Klux-Klan Anhänger aussahen.
Der Alchimist bückte sich. Das Amulett mit dem grünen Stein auf seiner Brust blitzte im Sonnenlicht auf und blendete die junge Frau.
Wie eigenartig Afrika doch ist, dachte die junge Frau. In den wenigen Stunden seit ihrer Ankunft hatte sie schon eine Menge sehen können- Männer, die Waffen aus Holz schnitzten, Frauen mit großen Ohrringen, Halsketten und Narben im Gesicht und Priester, die auf Kirchtürme stiegen, um zu singen, während alle um sie herum niederknieten und beteten.
Nachdem die junge Frau die Kisten mit den Vorräten dem Gewicht gestapelt hatte, holte sie eine Flasche mit Wein aus dem Rucksack, die sie auf dem Markt in Dschuba gekauft hatte, und trank ein paar Schlucke. Aus unerfindlichen Gründen vermochte der Wein sie zu erquicken.
„Wo machen wir als nächstes Halt?“, wollte sie wissen.
Der Alchimist respektierte die Stille des Flusses und antwortete erst, als sie an einer Straße vorbei kamen.
„Wir befolgen die Tradition des Landes. Die Tradition besagt, dass man zu Beginn einer Reise nie wissen kann, wo sie enden wird. Auch dann nicht, wenn man ein Ziel hat. Wir machen Rast, wenn wir erschöpft sind. So einfach ist das.“ Damit war für ihn die Unterhaltung erledigt.
„Wir durchreisen ein Kriegsgebiet ", rief die junge Frau entrüstet. „Wir brauchen einen Plan, um zu überleben."
„Man ist nirgends sicher", erwiderte der Araber, während er das Boot über eine Stromschnelle lenkte.
Es musste bereits kurz vor Mitternacht sein. Trotz der Warnung des Einheimischen im Schutz der Dunkelheit zu reisen, hatten sie den ganzen Tag auf dem Fluss verbracht.
Plötzlich musste die junge Frau an eine Geschichte denken, die ihr Vater ihr einmal erzählt hatte. Jener hatte für acht Jahre als Träger für ein Unternehmen im Irak gearbeitet. "Eines Tages begann die Erde zu beben. Und die Häuser fielen wie Streichholzschachteln in sich zusammen. Ich hatte panische Angst, es würde das Hochhaus zerstört, indem ich mich befand. Doch es half alles nichts. Das Haus stürzte ein. Mein Leben blieb verschont. Aber ich musste mir ein völlig neues Leben aufbauen, wie all die anderen. Neunzig Prozent der Häuser in Bagdad waren zerstört worden. Ab da begriff ich die Botschaft Gottes: Überall wo Hoffnung ist, ist auch ein Neuanfang möglich. Vielleicht war dies auch so eine Art Neuanfang. Schließlich war sie noch nie zuvor in Afrika gewesen.
Ein Sturm kam auf. Es ertönte ein Grollen, und die junge Frau wurde von einem Windstoß von ungeahnter Kraft zu Boden geworfen. Vor ihnen bäumte sich eine Welle auf. Das Boot flog durch die Luft. Es dauerte eine Weile, bis der Araber es wieder unter Kontrolle gebracht hatte.
„Du musst keine Angst haben. Die Nil Fahrt ist ein Teil unseres Schicksals. Genau wie die Wüstendurchquerung, die uns noch bevorsteht."
Die junge Frau fühlte sich mit einem Mal schrecklich einsam. Die Ungläubigen und die fremden Bräuche wirkten irgendwie bedrohlich. Überhaupt hatte sie, in der Eile des Aufbruchs, eine Tatsache außer Acht gelassen, die sie noch lange von den Tempeln fernhalten konnte: Sie konnte kein Arabisch. Also konnte sie sich nicht mit den Einheimischen verständigen. Nur wenige sprachen Englisch. Doch der Alchimist, der spanisch und arabisch fließend beherrschte, hatte ihr ein Buch gegeben, mit dem sie arabisch lernen konnte. Sie würde noch in dieser Nacht damit beginnen.
An einem Sonntagmorgen erreichten sie Khartum. Sie blieben eine Woche in der Stadt. Die junge Frau nahm Arabisch Stunden. Am Morgen des achten Tages zogen sie weiter.
„Du solltest Deine Umgebung genauer beobachten", meinte der Alchimist eines Abends, in einer Nacht ohne Mondschein. "Der Nil und die Wüste sind genauso so lehrreich wie Bücher, Akten oder wissenschaftliche Abhandlungen.“
Die junge Frau blickte auf das Wasser des Nils. 'Wie sorglos müssen die Fische sein', dachte sie. 'Sie brauchen sich nie Gedanken darüber zu machen, ob es ein Unwetter oder Krieg gibt und kennen keine Angst. Sie leben einfach so vor sich hin, so wie Tiere eben sind, und geben sich mit ein bisschen Nahrung und Wasser zufrieden.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der die junge Frau gedacht hatte, dass die Bank sie alles lehren könnte. Aber sie hatte ihr kein Arabisch beibringen können.
Es vergingen drei Tage ohne, dass viel geschah. Sie kamen rasch voran, obwohl sie mit starken Wind zu kämpfen hatten.
Eines Morgens fiel der jungen Frau ihr Traum wieder ein, den sie in den letzten Tagen mehrmals geträumt hatte. Sie war auf einer Reise durch Afrika gewesen, als sie eine Araberin ansprach, die ihr den Weg nach Luxor zeigen wollte. Die Alte hatte sie bei der Hand genommen. Doch anstatt sie zu den Tempeln von Luxor zu führen, hatte sie sie zu ihrer Bankfiliale in der Heimat geführt. Dann, dort angekommen, hatte sie Folgendes gesagt: ‚Wenn Du hierher zurück kommst, wirst Du deinen Schatz vorfinden.‘ Und als sie die Frau nach dem genauen Ort fragen wollte, war sie aufgewacht. Alle drei Male. Vielleicht bedeutete dies, dass sie ganz umsonst nach Afrika gekommen war.
Gerne hätte sie dem Alchimisten von ihrem Traum erzählt, aber sie traute sich nicht. Sicher würde er sie auslachen oder für verrückt erklären.
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