Ich durfte mein Baby auf dem Zimmer haben, sogar über Nacht wenn ich wollte, doch diesen Service nahm ich nicht in Anspruch. Ich hatte es lieber, wenn sie nachts auf der Babystation schlief und die Hebeamen sie mir brachten, wenn sie Hunger hatte. Am nächsten Tag sah Jan zum ersten Mal sein Schwesterchen. Er schaute sie sich genau an und hatte einen Gesichtsausdruck der schwer zu beschreiben ist. Er krallte sich immer wieder ans Wägelchen und guckte hinein. Beim Gehen, noch im Spitalgebäude, habe Jan seinen Papi gefragt, ob das nun wirklich ein echtes Baby gewesen sei? Mir fiel bei Jan`s folgenden Besuchen auf, dass er zwischendurch Alena`s Wägelchen leicht an mein Bett „bumsen“ liess. Später, nach Jahren erklärte er mir, dass er dies absichtlich getan hätte, damit sich die Kleine endlich bewegte und für ihn ein Beweis, dass darin tatsächlich ein lebendiges Wesen lag. So wie Jan damals, liess ich auch Alena im Kinderspital Münsterlingen eine ganze Nacht lang, an ein Überwachungsgerät anschliessen, das die Herztätigkeit, den Atem und den Sauerstoffgehalt in der Haut mass. Auch den Magenschliessmuskel untersuchten sie, um auszuschliessen, dass die getrunkene Milch beim Liegen nicht wieder zurückfliessen konnte und das Baby so ersticken könnte. Es war alles im grünen Bereich und nichts Auffälliges zu erkennen. Jan musste ich für diese Untersuchung nach St.Gallen in den Kinderspital bringen. Doch nun gab es auch ein Kinderarzt hier in Münsterlingen, der sich mit dem Kindstod befasste. Das war sehr praktisch, so gab mir die Hebamme in der Nacht Bescheid und ich lief hinüber, in den Trakt vom Kinderspital um Alena den Busen zu reichen.
Ich muss noch erwähnen, dass ich zum Zeitpunkt der Einleitung nicht wusste, dass das Kind sich dagegen hätte wehren können. Es hätte sein können, dass man mich nach vielen Wehenstunden, die nichts gebracht hätten, mich einfach wieder nach Hause geschickt hätte und das Ganze dann doch der Mutter Natur überlassen hätte. Nur gut, dass ich das nicht wusste, sonst hätte ich mich ganz bestimmt nicht dazu entschlossen. Und ich bildete mir ein, ich hätte tatsächlich Einfluss auf ihr Geburtsdatum, lach! Ich kam gar nicht auf die Idee, dass es anders hätte sein können, wie damals, als man Joe einleiten musste. Der Arzt erklärte mir, dass es sehr wohl einen Unterschied mache, ob das Kind tot sei oder lebendig. Und dann fragte ich ihn noch gleich, warum die Schmerzmittel damals nichts halfen und er meinte, dass man zu lange gewartet habe, denn wenn die Schmerzen schon zu stark seien, dann helfen die Mittel dagegen nicht mehr viel. Ich wurde über die dürftigen Informationen von damals sauer und auch über mich selbst. Warum musste ich die Starke spielen, es brachte mir so gesehen nichts. Na ja, im Nachhinein ist man immer schlauer. Der Sommer `93 war nicht so heiss wie der im Jahre `88. Als ich mit Alena nach Hause kam, war sie übersät mit Pickelchen im Gesicht, ich dagegen war die meinigen los. Jutta meinte mit einem Schmunzeln, ich hätte sie bestimmt Alena bei der Geburt übermacht. Wir lachten, denn die Vorstellung war ulkig und gemein. Auch diesmal bekam ich vom Spital Münsterlingen ein Überwachungsgerät. Die Entwicklung schritt voran und so gab es ein viel moderneres. Es war mit Akku versehen und wir konnten es überallhin mitnehmen. Ich klebte Alena zwei Sonden auf die Brust, die an dünne Kabel befestigt waren. Diese steckte man in das tragbare Gerät, dass etwa so gross war wie ein Kassettendeck. Einziger Nachteil waren die Kleidchen, die mussten wenn möglich zweiteilig sei. Bei den einteiligen Kleidchen, schnitt ich ein kleines Loch und umnähte es mit Knopflochstichen. Dieses Gerät war kostenpflichtig. Für Jan`s Gerät musste ich damals nichts bezahlen. Die Kosten für Alena`s Gerät übernahm die Krankenkassenversicherung, einzig die Sonden dazu, mussten wir selbst bezahlen. Ich fand nach Tagen einen Trick heraus um diese mehrmals verwenden zu können, denn die waren nicht billig. Das Überwachungsgerät kostete für die Versicherung jeden Monat gute 400.- Fr. Wir waren sehr zufrieden mit dem Teil. Keine häufigen und unnötigen Fehlalarme mehr. Rundumüberwachung, sowie im Auto, so auch im Kinderwagen, wow, welch Luxus! Der Kinderarzt empfahl für Alena die Einnahme von «Selen». Weil dieses Spurenelement zu wenig in der natürlichen Nahrung vorkommt, bekam ich für Alena ein Rezept für ein Jahr in flüssiger Form.
Wir planten nun schon den baldigen Umzug. Alena liessen wir in Zihlschlacht taufen. Ihr Götti ist mein Bruder Sascha und ihre Gotte Silvia. Es war ein schönes Familienfest, dass wir nach der Kirche bei Silvia und Walter zu Hause im Garten weiter feierten.
Dieter organisierte den Lastwagen und erledigte das Administrative. Einen Monat vor dem Umzug musste er wöchentlich zwei Tage nach Burgdorf, um dort das neue Lager einzurichten. Und weil er mit dem Knupp-Bus hin und her fuhr, nahm er jedes Mal schon Sachen mit, die wir entbehren konnten. Er übernachtete in Ranflüh in unserem künftigen Miethaus. Nach Dieter`s Klagen herrschte dort eine regelrechte Mückenplage. Er fand heraus, dass sich die Mücken in den drei «Güllenkästen» freudig vermehren konnten. Gülle war sozusagen keine mehr vorhanden, dafür stetiges Regenwasser. Noch vor dem Umzug besprühte er mit Insektenmittel ihre Unterschlüpfe. Unter der Laube hielten die Viecher sich ebenfalls gerne auf. Danach hatten wir fast Ruhe.
Unsere zweite Wohnungsabgabe stand bevor. Doch dieses Mal hatte ich mehr Erfahrung in Sachen putzen und wusste, wo sie überall ganz genau nachschauen würden. Ich putzte die Wohnung allein, obwohl mir Jutta ihre Hilfe anbot. Bei der Abgabe wollte ich nicht dabei sein doch scheinbar hätte es sich gelohnt, denn der Abnehmer sagte, dass er in seiner langen Karriere noch nie eine so saubere Wohnung abnahm und liess mir Grüsse ausrichten. Hey, das schmeichelte mir, dass kann ich nicht leugnen. Seit Jahren war ich eine pingelige Hausfrau, was Sauberkeit und Ordnung anging. Das lag wahrscheinlich an meinem erlernten Beruf, denn unter der Lupe sieht alles sehr viel unappetitlicher aus.
Auf der Fahrt ins Bernerland, in unsere neue Heimat, hörten wir «Depeche Mode». Zuvor kaufte ich mir natürlich «Züri West» und «Patent Ochsner». Alles zur Vorbereitung und Vorfreude des Ortswechsels. Es war ein Gefühl, wie die eines Pioniers, als wir nach Ranflüh fuhren und wir diskutierten auf dem Weg über Heimat und Heimatgefühl. Wir stellten für uns fest, dass Heimat dort war, wo unser Bett stand. Alena war da gerade mal 6 Wochen alt und Jan fünf Jahre.
Der Sommer `93 ging langsam zur Neige und ich durfte mich im Heizen üben. Dieter heizte am Morgen schön ein und ich schob dann nur noch Holz nach und musste aufpassen, dass mir die Glut nicht ausging. In den ersten Tagen bestaunte ich vom Wohnzimmersofa aus die zwei Zwetschgenbäume, die direkt vor dem Haus standen und ich dachte, so schön, die gehören nun so lange wir hier wohnen uns. Auf demselben Sofa sitzend, sah ich Alena nach dem Stillen lange in die Augen und erkannte, dass sie eine ganz andere Persönlichkeit hatte als Jan. Von dieser Erfahrung war ich ganz fasziniert! So klein sie auch war, fielen mir ihre weiblichen Rundungen an ihren süssen kleinen Oberschenkelchen auf. Ich fand das so ulkig und interessant. Ich verspürte immer wieder eine Wahnsinnsfreude, dass ich nun ein Töchterchen hatte. Jan besuchte in Ranflüh die Spielgruppe und zusammen mit mir das «MUKI-Turnen». Zu meinem Erstaunen kannten ihn schon viele Personen, vor allem die Kinder riefen ihm freudig zu. Im Schulhaus Ranflüh wartete ich in einer der Garderoben wie üblich auf Jan, der seine Spielgruppenstunde bald aus hatte. Neben mir sass ebenfalls eine wartende Mutter. Plötzlich fragte sie mich, ob das Gerät neben meinem Baby in der Tasche, eine Sauerstofflasche für die Atmung sei und zeigte mit fragendem Blick auf das Überwachungsgerät von Alena. Ich hätte fast einen Lachanfall gekriegt, wenn der Witz nicht so tragisch gewesen wäre.
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