„Das US-Eingreifen in Saudi-Arabien, mit dem die Demokratiebewegung niedergeschlagen wurde“, schrieb Hermann Brandt, „hat die Welt in einem Sinne verändert, der von den Amerikanern mit Sicherheit nicht erwartet und auch nicht gewünscht worden ist. Sie haben so gehandelt, um ihre strategisch wichtigen Stützpunkte zu sichern, als Fortsetzung einer Politik, die dazu beigetragen hat, die islamische Zivilisation zusammenzuschmieden. Sie erhebt nun ihre Faust. Der Clash, den Huntington prognostiziert hat – er ist da. Der Westen wird in diesem Konflikt unterliegen. Er kann keinen Krieg gewinnen, den er wegen seines Eingreifens in Saudi-Arabien moralisch und ethisch schon zum jetzigen Zeitpunkt verloren hat.“
Ob die beiden Fracking-Typen das wohl auch so sehen?
Fast schien es Jan, als dürfe er froh sein, dass es solche Leute wie die beiden Handlungsreisenden gab, die unterwegs waren, um geschäftliche Kontakte zu schmieden. Solche wirtschaftlichen Verbindungen konnten auf zwischenstaatliche Kontakte anscheinend ungemein stabilisierend wirken. Insofern glaubte Jan sehr wohl, was der Ältere der beiden vorhin gesagt hatte: dass die USA eine Strategie verfolgten, die Allianz islamischer Staaten aufzubrechen. Leider saß der Politologe Brandt nicht bei Jan im Flugzeug. Das Gespräch der beiden Fracker hätte ihn sicher interessiert.
Nein, die Amerikaner waren gewiss nicht blöd. Vieles von dem, was der jüngere Geschäftsreisende vorhin gesagt hatte, hätte Jan unterschreiben können. Das war das Amerika, das er sich wünschte. Ein Amerika, das sich zumindest gelegentlich mal ein paar kritische Fragen stellte.
Ein Amerika, das Meike rettet.
Mit jeder Sekunde entfernte er sich weiter von seiner Schwester. Immer wieder schaute er auf die Uhr und erwartete die Ankunft in Kairo ungeduldig. Sie hatten Kreta längst überquert, und mit einiger Anstrengung meinte Jan, im Dunst am Horizont voraus bereits die ägyptische Küste ausmachen zu können, als die Flugbegleiterin in die Kabine kam und sagte:
„Es gibt leider unvorhergesehene Probleme beim Anflug auf Kairo International Airport. Das Bodenpersonal befindet sich im Streik. Wir versuchen, Landeerlaubnis auf einem der vier anderen Flughäfen rund um Kairo zu bekommen, deren Landebahn lang genug für unseren Jet ist, aber es scheint so, als ob wir großräumig ausweichen müssen, weil der Streik übergreift. Welche Zielflughäfen ließen sich mit Ihren Zielen vereinbaren? Wohin müssen Sie?“
„Kairo“, riefen die Amerikaner, und Jan sagte:
„In die Fayyum-Oase.“
„Ich möchte Sie um einige Minuten Geduld bitten“, sagte die Flugbegleiterin. „Wir werden sicher eine Lösung finden.“
Mit diesen Worten verschwand sie nach vorn.
Plötzlich saß der jüngere der beiden Amerikaner auf dem Platz neben Jan, jenseits des Ganges, und musterte ihn unverhohlen interessiert, so dass Jan fast erschrak. Er hatte ein freundliches, offenes Gesicht.
„Hallo, ich bin Jeff“, sagte er und streckte Jan seine Hand entgegen. „Sie wollen ins Fayyum? Das ist so ziemlich die abgefahrenste Weltgegend, die ich kenne. Sie liegt teilweise unter dem Meeresspiegel, wissen Sie das? Man darf sich das gar nicht vorzustellen versuchen. Meine Vorfahren stammen von dort.“
Tatsächlich hatten sich die Gene dieser Vorfahren bis heute so weit durchgesetzt, dass Jeff die arabische Herkunft deutlich anzusehen war. Der dunkle Teint, die dunkelbraunen Augen, die dichten, fast schwarzen Haare, das schmale Gesicht – er wäre problemlos als Araber durchgegangen.
Jan ergriff die angebotene Hand und stellte sich vor.
„Aber Sie müssen vorsichtig sein, Jan“, sagte Jeff. „Malaria. Das Fayyum ist ein ehemaliges Sumpfgebiet, und die Malaria ist wieder auf dem Vormarsch. Ich hoffe, Sie haben an Prophylaxe gedacht.“
„Natürlich“, log Jan.
Die Flugbegleiterin kam wieder herein. Sie brachte schlechte Nachrichten:
„Der Streik des Bodenpersonals scheint auf alle Flughäfen im Nildelta übergegriffen zu haben. In allen Städten des Deltas kommt es zu Aufruhr und bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die einzige Zusage, die wir bekommen konnten, ist aus El-Minya. Dort gibt es einen Regionalflughafen, der von Kairo etwa 250 Kilometer entfernt ist. Dort hätten wir Landeerlaubnis. Die Alternativen wären ein Ausweichen nach Tunis oder Tel Aviv.“
„Warum streiken die überhaupt?“, fragte Jeff.
„Die ägyptische Regierung hat die Brotpreise freigegeben“, antwortete die Flugbegleiterin, „auf Druck der Weltbank.“
„Na sowas“, knurrte der ältere Geschäftsreisende, der hinten sitzengeblieben war. „Marktwirtschaft im Islam – wie passt das denn zusammen?“
Jan hatte eine grobe Vorstellung davon, wo die Fayyum-Oase im Verhältnis zu Kairo lag, und wenn El-Minya 250 Kilometer südlich von Kairo lag, dann erschien ihm das unter diesen Bedingungen wie eine brauchbare Alternative.
„Wenn Sie dafür sorgen können, dass ich ein Taxi am Flugplatz finde, wäre ich mit El-Minya einverstanden“, sagte er.
„Es gibt viele Dinge, an denen es in Ägypten mangelt, Sir“, gab die Flugbegleiterin zurück. „Taxis gehören definitiv nicht dazu.“
Schließlich stimmten auch die beiden Amerikaner zu, unter der Voraussetzung, dass OUO dafür sorgte, dass die Leute, die sie am internationalen Flughafen von Kairo abholen sollten, über die neue Destination informiert wurden. Die Flugbegleiterin ließ sich Telefonnummern und Namen geben und versprach, alles in die Wege zu leiten, und tatsächlich kam sie kurz darauf mit der Bestätigung zurück, dass alles organisiert sei. Flugzeit bis zur Landung in El-Minya noch etwa 40 Minuten.
„Aber vielleicht sollten Sie sich etwas informieren“, sagte sie mit ernster Miene. „Wir hätten noch genug Treibstoff für den Rückflug.“
Sie schaltete den Monitor ein, der in der Rückwand des Cockpits eingelassen war, und wählte den englischsprachigen Kanal von Al-Dschasira. Dort gab es drastische Bilder von Straßenkämpfen in Kairo, Alexandria und Al-Isma’iliyyah, obwohl es gerade acht Uhr morgens war. Die Verordnung der islamistischen Regierung, die Brotpreise freizugeben, hatte offenbar für spontane Proteste gesorgt. Die Lage war unübersichtlich. Entlud sich da nur angestauter Unmut, oder war das der Anfang einer Rebellion gegen die Islamisten?
Und das ausgerechnet heute!
Für Jan stand fest, dass dies alles nichts an seinen Plänen änderte, auch dann nicht, wenn er mitten in eine Revolution hineinfliegen sollte. Aber wie sah es bei den beiden Geschäftsleuten aus? Forschend blickte er zu Jeff hinüber, der wiederum seinen Partner anblickte; und der starrte auf den Bildschirm.
„Misses!“, rief er schließlich, und die Flugbegleiterin erschien wieder. „In El-Minya ist es ruhig?“
„Nach allen Informationen, die mir vorliegen, ist es in El-Minya ruhig, ja. Wir landen in zwanzig Minuten.“
„Zum Henker mit diesen Arabern“, knurrte der Mann. „Warum müssen die schon wieder Revolution machen? Haben die denn nicht noch genug von der letzten? Hat doch wirklich genug Tote gegeben. Riesenschweinerei!“
„Wir landen!“, ordnete Jan an. „Es sei denn, der Kapitän ist anderer Meinung.“
„Der Kapitän sagt, dass wir problemlos landen können.“
„Dann tun sie es“, sagte Jan, und nun entschied sich auch der Geschäftsreisende:
„Runter mit der Kiste. Aber Sie warten, bis wir von unseren Geschäftspartnern abgeholt worden sind!“
„Wir können bis zu einer Stunde warten“, sagte die Flugbegleiterin, „bis wir wieder aufgetankt sind und die üblichen Kontrollen durchgeführt wurden.“
„Die Kontrollen interessieren mich nicht“, knurrte der Geschäftsreisende. „Sie werden warten, bis wir abgeholt worden sind, egal ob Ihre Kontrollen vorher abgeschlossen sind oder nicht. Sonst bekommen Sie massiven Ärger mit Eccon .“
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