Solche vom militärisch-industriellen Komplex.
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Während des Starts schwiegen die beiden Männer, sahen aus den Fenstern und genossen den einzigartigen Ausblick, den ein Start vom Athener Flughafen bot. Sie starteten nach Südwesten. Rechterhand erstreckte sich das Athener Häusermeer, wie Jan sehen konnte, wenn er sich zur anderen Sitzreihe hinüberbeugte. Er saß links, und da der Jet rasch an Höhe gewann, hatte er auf seiner Seite bald den kompletten Überblick über das Südostende der Halbinsel Attika mit dem Kap Sounion. Als sie über das Meer kamen, legte sich der Jet in eine sanfte Linkskurve nach Süden, Richtung Heraklion und Kairo. Noch während des Steigflugs tauchte Kéa in der Ferne auf, die nächstgelegene Kykladeninsel. Und das alles im Licht der Morgensonne, die sich noch nicht weit über den Horizont erhoben hatte. Griechenland, die Wiege der Demokratie, blitzte sozusagen.
Vielleicht hatte Jan das schon zu oft gesehen. Heute jedenfalls riss ihn der Ausblick nicht hin. Er hatte völlig andere Sorgen. Wie sollte er die Flugzeit überstehen, in der er verdammt war, untätig herumzusitzen? Immerhin, er war auf dem Weg, er war dabei, der Forderung der Entführer nachzukommen. Nur dass die das erst erfahren würden, wenn er in El-Shawashna Kontakt zu Rafik aufnahm.
Also widmete er sich, um sich abzulenken, wieder der Zeitung. Die Eccon-Kerle hielten zum Glück den Mund.
Noch einmal in Ruhe die Meldung auf der Seite eins. Ajatollah Khahmani war in Teheran überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Es gab gewiss Menschen, deren Tod Jan näher gegangen wäre. Der Ajatollah hatte keinen Moment verstreichen lassen, ohne gegen das „zionistische Regime“ in Israel und seine Patronatsmacht USA, das „Imperium des Satans“, zu hetzen. Ein Hardliner aus dem Bilderbuch. Leider gab die Meldung ansonsten nicht viel her. Der Ajatollah war während eines öffentlichen Auftritts vor laufenden Kameras zusammengebrochen, nachdem er zuvor Anzeichen von Schwäche gezeigt hatte. Khamani war Ende sechzig, da konnte so was schon mal passieren. In den USA dürfte der Tod des erbitterten Feindes sicher mit tiefer Genugtuung registriert werden. Khamanis Tod vor laufenden Kameras war auf YouTube garantiert in zahlreichen Videos dokumentiert.
Doch weit mehr interessierte sich Jan für Neuigkeiten aus dem Swat-Tal. Die große Reportage auf Seite drei stammte von Gordon W. Maverick, einem berühmten amerikanischen Journalisten. Die Zeitung wies in einer Randnotiz darauf hin, dass der Text gleichzeitig auch in der New York Times , im Guardian und in Le Monde erschien, in Deutschland aber exklusiv nur in dieser Zeitung. Maverick war eigentlich ein Kriegsberichterstatter. Doch der Mann wusste, was er seiner Leserschaft schuldete. Schon im ersten Absatz wies er darauf hin, dass dieser Text eher dem Zufall zu verdanken war, da Maverick sich gerade in Pakistan aufgehalten hatte – und vor wenigen Tagen war er noch selbst im Swat-Tal gewesen.
„Es hätte mich treffen können, wenn ich nur zwei Tage länger dort gewesen wäre“, schrieb er. Das Entsetzliche daran erschloss sich erst später im Text.
Maverick war einer jener Journalisten, die immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren – und auch schnell genug wieder von dort verschwanden. Er hatte sich einen Namen gemacht, als er, kaum dreißig Jahre alt, „embedded“ mit den US-Truppen in den Irak einmarschiert war und trotzdem die journalistische Distanz gewahrt hatte. Seine Reportagen waren weltbekannt, und was er über die Seuche im Swat-Tal schrieb, riss Jan derart mit, dass er selbst das Geplapper seiner Mitreisenden überhörte, die mittlerweile angeregt miteinander diskutierten.
Dabei war Maverick der Wieder-Zugang zum Tal verwehrt worden. Er konnte also nicht aus eigenem Augenschein berichten. Das machte die Sache nur noch gespenstischer. Das Tal war weiträumig abgesperrt – eine logistische Leistung, die Jan den pakistanischen Sicherheitskräften nicht zugetraut hätte, denn es ging um ein riesiges Gebiet.
Pakistan war seit Jahrzehnten ein Wackelkandidat in der Weltpolitik, hin- und hergerissen zwischen dem westlich orientierten Einfluss seiner Eliten und des Militärs, dem stetig wachsenden Einfluss von Islamisten, deren Basis das Swat-Tal war und die alles verdammten, was nach Westen roch, und dem des mächtigen pakistanischen Geheimdiensts ISI, der in dem Ruch stand, von Islamisten unterwandert zu sein. Seit dreißig Jahren konnte die Atommacht Pakistan sich nicht entscheiden, welchen Weg sie gehen wollte. Zurzeit wurde die pakistanische Bevölkerung auf 235 Millionen Menschen geschätzt, und sie wuchs weiter stark an. Arbeitslosigkeit und Armut grassierten – der ideale Nährboden für fundamentalistisches Gedankengut. Seit zehn Jahren wurde der baldige Zusammenbruch Pakistans prognostiziert, ohne dass sich diese Vorhersagen bisher bewahrheitet hätten.
Im Fall des Swat-Tals agierte die ständig kriselnde Regierung erstaunlich klar und kompromisslos, so als habe sie Pläne aus der Schublade gezogen, wie in einem solchen Fall zu verfahren sei. Maverick beschrieb die brachiale Entschlossenheit der Sicherheitskräfte, mit der die Abschottung des Tals radikal durchgesetzt wurde, auch gegen Leute, die zu ihren Familien wollten. Sie durften nicht hinein – zu ihrer eigenen Sicherheit. Was aus dem Tal zu hören war, etwa über Telefonkontakte, klang apokalyptisch. Maverick schilderte, wie ein Konvoi von ABC-Spezialkräften des pakistanischen Militärs durchgelassen wurde und wie dann alle darauf warteten, dass die Spezialisten zurückkamen und vielleicht etwas Klarheit in die Angelegenheit brachten. Doch auf die Rückkehr wartete man zunächst vergeblich. Es gab Gerüchte über einen Helikopter, der Proben aus dem Swat-Tal in ein Hochsicherheitslabor gebracht habe, um das Virus – oder den Erreger, das Gift – identifizieren zu lassen. Es gab auch Gerüchte über Tausende Tote im Tal, Tausende mehr als am Vortag. Das Wasser sei verseucht, hieß es, und wer davon trinke, sterbe innerhalb kürzester Zeit. Offenbar waren die internen Berichte über das, was im Swat-Tal passierte, ziemlich drastisch. Maverick schrieb davon, dass Leute gesehen hätten, wie Menschen sich quasi von innen nach außen gestülpt hätten, indem sie die eigenen Eingeweide erbrachen.
Entsetzt eilten Jans Blicke über die Zeitungszeilen und bohrten sich schließlich in die Luft jenseits des Flugzeugfensters. Da ließ der Jet gerade Mykonos hinter sich, und vor ihnen lag Naxos. Da Jan auf der linken Seite des Jets saß, konnte er noch einen Zipfel von Mykonos sehen, indem er sich beinahe den Nacken verrenkte.
„Benötigen Sie etwas, Sir?“, fragte die Flugbegleiterin, die in ihrer OUO-Uniform wirklich hübsch anzusehen war. „Kann ich Ihnen etwas Gutes tun?“
Wie unanzüglich!
Jan ignorierte das Dekolleté der jungen Frau und ihre auffällig unauffällig geschminkten Lippen, denn er war soeben gedanklich aus dem Swat-Tal zurückgekehrt, und beim Anblick dieser Lippen konnte er momentan nur an eines denken: an Übertragungswege.
Wenn nur die Hälfte von dem zutraf, was Jan argwöhnte, dann stand die Welt möglicherweise vor einer Pandemie mit einem Erreger, dem die Menschheit noch nie begegnet war. Hoffentlich gelang es den Pakistanis, das Swat-Tal wirklich komplett abzuriegeln und hart zu bleiben. Ein einziger Infizierter, der nach draußen gelangte, konnte genügen, den Rest der Welt in tödliche Gefahr zu bringen. Jan hoffte, dass er sich täuschte und dass es sich doch „nur“ um eine Vergiftung handelte, wie er gestern noch geglaubt hatte. Aber aus Gründen, die sich ihm nicht völlig erschlossen, glaubte er heute eher an einen Erreger.
Gestern in meinem Haus in Kala Nera, Pilion. Und dann mit Meike im Pool.
Er seufzte tief.
„Ich weiß nicht“, sagte einer seiner Mitreisenden, „ich werde nicht schlau aus diesen Typen. Das sind alles Schlitzohren.“
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