Virenkrieg
Erstes Buch
Thriller
Lutz Büge
www.ybersinn.de/news
Inhaltsverzeichnis
Prolog 1
Prolog 2
1. Kapitel: Alles hängt mit allem zusammen
2. Kapitel: Ausgeliefert
3. Kapitel: Alles wie früher
4. Kapitel: Der Tod des Senators
5. Kapitel: Unter Beobachtung
6. Kapitel: Himmelfahrt
7. Kapitel: Charybdis
8. Kapitel: Am Pranger
9. Kapitel: Hydra des Hasses
10. Kapitel: Gottesurteil
„Verehrte Herren, lassen Sie mich nun zum Punkt kommen. Welche Kriterien zeichnen ein echtes Killervirus also aus? Ich glaube, es sind die vier folgenden:
Erstens: Ein hohes Ansteckungspotenzial. Es kann leicht übertragen werden, nicht nur direkt von Mensch zu Mensch. Es reicht, eine Türklinke zu berühren, die vorher ein Infizierter in der Hand hatte, der sich die Hände nicht gewaschen hat. Unübertroffen ansteckend ist Orthopoxvirus variola, das Pocken-Virus, aber auch Influenza-Viren wie H5N1 können das gut.
Zweitens: Eine hohe Sterbequote. Je weniger Menschen die Infektion mit einem Virus überleben, desto höher sind seine Mortalitätsrate und das Potenzial, selbst das beste Gesundheitssystem dieses Planeten zum Zusammenbruch zu bringen. Unübertroffen in dieser Hinsicht: das Marburg-Virus mit einer Mortalitätsrate von bis zu 90 Prozent.
Drittens: Mieses Image. Unser Killervirus löst Panik unter den Menschen aus und lässt jedes gesellschaftliche Zusammenleben zum Erliegen kommen. Das schlechteste Image aller Viren hat zweifellos die Menschheitsgeißel schlechthin, das Pocken-Virus.
Viertens: Keine Gegenmittel. Es steht kein Impfstoff zur Verfügung und es kann in der Eile auch keiner hergestellt werden. Da viele Staaten sich mit Pocken-Impfstoff für ihre Bevölkerungen bevorratet haben, scheidet der Pocken-Erreger und wohl auch Pocken-Chimären trotz vieler Vorzüge leider aus. Im Idealfall sollte es sich um ein unbekanntes Virus handeln, das noch nicht erforscht werden konnte.
Und damit kommen wir zum Kern dieser Veranstaltung, sehr geehrte Herren, denn ich hätte hier etwas für Sie, hier in diesem kleinen, unscheinbaren Hochsicherheitsbehälter …“
Auszug aus den SCOUT-Protokollen,
März 2017
Prolog 1
9. September 2022
Seattle, Lakeside Avenue
Der Himmel war tiefblau, als habe ihn ein unerbittlicher, stählerner Besen leergefegt. Die Sonne glitzerte auf den Wellen von Lake Washington, die von einigen dahinschnellenden Segelbooten durchschnitten wurden, und in der klaren Luft erhoben sich weit jenseits des Sees in der Ferne die schneebedeckten Viertausender-Vulkane der Cascade Range. Nur im Südosten, wo Mount Rainier thronte, ballten sich Wolken. Der mächtige Vulkan entzog sich häufig den Blicken der Tiefländer.
Samuel McWeir liebte dieses Panorama. Hier oben im Nordwesten war die Welt noch in Ordnung. Das ließ sich sonst nur noch von sehr wenigen Orten auf diesem Planeten behaupten. Stundenlang konnte Samuel auf der Terrasse seiner Villa sitzen, besonders wenn er, wie jetzt, von einer längeren, erschöpfenden Reise durch mehrere US-Bundesstaaten zurückgekehrt war, in deren Verlauf er sich mit viel Banalem hatte abgeben müssen. Er liebte das sanfte Glucksen, mit dem Lake Washington um die hölzernen Fundamente der Terrasse spülte, und er liebte es, sein Leben, das weitgehend hinter ihm lag, mit dem Blick auf die Cascade Range zu vergleichen. Dabei war ihm völlig klar, dass etwas Anstrengung nötig war, um den Anblick einer Gipfelkette nicht etwa mit einer Kurve von Börsennotierungen eines Unternehmens zu assoziieren oder mit dem Auf und Ab eines menschlichen Lebens, sondern mit einer immerwährenden Erfolgsgeschichte, einem permanenten Gipfelsturm, der nur eine Richtung kannte: aufwärts.
Samuel empfing gern Journalisten, damit sie über ihn berichteten, aber vor ungefähr einem Monat, vielleicht auch erst vor drei Wochen – jedenfalls vor seiner Reise nach Arkansas – hatte er eine junge Frau hinausgeworfen. Sie hatte ihn von Anfang an mit Misstrauen erfüllt, unter anderem weil sie von einem dieser Blogs kam, die in der Medienarbeit mittlerweile so wichtig waren wie Fox News. Raphael, Samuels Medienberater, hatte ihm geraten, die Journalistin zu empfangen, aber kaum hatte er sie gesehen, da wusste er schon, dass es in die Hose gehen würde. So freundlich, so herzlich – und so ehrgeizig! Die Sprache kam auf seine Arbeit, und statt der üblichen Fragen – „Wie haben Sie sich gefühlt, Sir, als Sie den Nobelpreis in Empfang nahmen? Meinen Sie nicht, Sir, dass Sie den Nobelpreis schon mindestens zwei Jahre früher verdient hätten?“ und derlei –, statt solche Fragen zu stellen, hatte diese Frau wissen wollen:
„Mr. McWeir, glauben Sie wirklich, dass Sie den Nobelpreis verdient haben?“
Der Affront beschäftigte ihn noch heute, Wochen später. Die Frage hatte etwas in ihm aufgerührt. Ja, er war überzeugt davon, dass er den Preis verdient hatte, denn er hatte viel geleistet. Er verstand nicht, wie jemand daran offenbar zweifeln konnte. War das etwa ein Vorbote dessen, was in linken Medien gern als „kritische Würdigung“ bezeichnet wurde? Durfte man denn nicht mehr seine Meinung sagen? Samuel stand dazu, was er der Nation neulich in jenem Time -Interview zu amerikanischen Werten und Tugenden gesagt hatte, aber vielleicht wäre es doch klüger gewesen, hätte er diese Gedanken für sich behalten. Dann hätte er seinen Frieden gehabt und könnte so sterben, wie er es sich immer vorgestellt hatte, ganz schlicht, zurückgelehnt im bequemen Liegestuhl, vor sich auf dem Tisch eine Tasse Tee, die Maggie ihm gerade serviert hatte, die nagenden Geräusche des Wassers im Ohr, und das letzte, was er auf Erden sähe, wäre dieses unglaubliche Bergpanorama.
Er war unruhig. Immer wieder sah er auf die Uhr, die inzwischen 3:20 nachmittags zeigte, und schüttelte den Kopf. Es war nicht Michaels Art, sich zu verspäten. Zumindest würde er etwas von sich hören lassen, eine erklärende SMS, ein kurzer Anruf. Um 17 Uhr kamen die Gäste zur jährlichen Soirée, und zwischen Samuel und Michael war verabredet, dass sie sich vorher in Ruhe ein wenig unterhalten wollten. Samuel freute sich darauf, den jungen Professor von seiner in Schwung kommenden Karriere berichten zu hören, von den Projekten mit all dem unerforschten Leben, das er da unten in Phoenix auf den Labortisch bekam. Michael berichtete zwar in regelmäßigen Mails, wie es ihm erging, aber es war doch etwas anderes, wenn man sich beim Erzählen gegenübersaß. Samuel war vor allem auf die Dinge neugierig, von denen Michael in seinen Mails wohlweislich nichts schrieb.
Samuel hatte die Universität von Phoenix dezent auf den jungen Mann hingewiesen, als er von dem Projekt mit Fupro gehört hatte. Dieses Projekt entsprach in seiner Bedeutung dem Human Genom Project , in dem Ende des vergangenen Jahrtausends das menschliche Erbgut komplett kartiert worden war. Am CER – dem Center for Epidemiological Research – wollten sie etwas Ähnliches mit der Welt der Mikroben versuchen, doch dagegen war das Human Genom Project ein Kinderspiel. Samuel schätzte, dass weniger als ein Tausendstel aller auf Erden existierenden mikroskopisch kleinen Lebensformen überhaupt bekannt, geschweige denn systematisch erfasst oder gar erforscht worden war. Über die großen Menschheitsgeißeln wie die Erreger der Pest oder der Lepra wusste man natürlich eine Menge, aber es gab unzählige weitere mikroskopisch kleine Organismen, über die sich kaum jemals ein Wissenschaftler den Kopf zerbrochen hatte, einfach weil sie noch niemand bemerkt hatte. In dieser Welt des Mikroskopischen stand die Wissenschaft immer noch ganz am Anfang. Selbst in Sachen Tiefseeforschung war man inzwischen weiter. Und jenseits des Mikroskopischen, in Bereichen, die kein konventionelles Lichtmikroskop mehr erhellen konnte, wartete das Universum der Viren auf Erforschung. Dafür war Michael Schwartz genau der Richtige.
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