Kurz entschlossen machte er kehrt und schlich zu den Lastwagen zurück. Schon beim ersten, einem Tankwagen, hatte er Glück. Die Beifahrertür war unverschlossen, das Fahrerhaus war leer und der Schlüssel steckte. Glücklicher Zufall. Ansonsten hätte er sich ein Weilchen verstecken müssen, ehe er sich wieder unsichtbar gemacht hätte, um zu entkommen und die gewonnenen Erkenntnisse zu übermitteln.
Aus dem erhöhten Fahrerhaus hatte er einen besseren Überblick über den U-Boot-Hangar. Im Hintergrund waren mächtige, geschlossene Stahlschotten zu sehen. Dahinter lag vermutlich das Meer.
Aber was war das für ein U-Boot, das in dem rechten Bassin ruhte? Keinesfalls handelte es sich um ein Boot amerikanischer Bauart. Es wirkte breiter und bulliger als alles, was aus amerikanischen Werften kam, einschließlich des Kommandoturms. Wenn es nicht so unwahrscheinlich gewesen wäre – Omar hätte gewettet, dass es sich um ein sowjetisches Boot handelte, um ein Relikt des Kalten Krieges. Wenn er sich nicht täuschte, waren auf der Oberseite des Vorschiffs eine Reihe von kreisrunden, verschlossenen Luken auszumachen – die Öffnungen von Raketensilos.
War das etwa ein sowjetisches Atom-U-Boot? Das würde bedeuten, dass der Koloss mindestens 35 Jahre auf dem Buckel hatte. Merkwürdigerweise wirkte er jedoch wie neu, wie gerade erst zu Wasser gelassen.
Hatte man das Boot hier stillgelegt? Aber warum an diesem geheimen Ort? Nein, es wirkte nicht wie eingemottet, sondern im Gegenteil: Es wirkte, als könne es jederzeit in den Einsatz starten. Und was hatten all die Tankwagen hier im Hangar zu suchen?
Das stählerne Ungetüm schien zu warten. Worauf auch immer.
Omar wusste, dass er eine wichtige Entdeckung gemacht hatte, über die Langley unbedingt informiert werden musste. Rasch berührte er mehrfach hintereinander einen Punkt hinter seinem linken Ohr. Eine zwischen seine Augenbrauen implantierte Mikrokamera machte eine Reihe von Bildern von den Booten und hätte diese auch sofort nach Langley geschickt, wenn sie denn Verbindung gehabt hätte. Doch Omar befand sich viele Meter tief im Fels der Hügelkette. Also speicherte die Kamera die Bilder und würde sie versenden, sobald sie Kontakt bekam. Die Experten in Langley würden im Handumdrehen herausfinden, was das für ein U-Boot war, da war Omar sicher, auch wenn von seinem Standort aus keine Typenbezeichnung oder Seriennummer zu erkennen waren.
Omars Finger begannen zu kribbeln. Die vier Minuten waren um, der Energieverbrauch der Nanobots machte sich bemerkbar. Omar fühlte sich allerdings nicht erschöpft, im Gegenteil: Adrenalin ließ sein Herz aufgeregt pochen. Er musste jetzt schnellstmöglich von hier verschwinden. Er hatte schon genug riskiert.
Immer noch unsichtbar rutschte er hinüber auf den Fahrersitz, doch genau in dem Moment, als er den Lastwagen anließ, wurde die Fahrertür geöffnet – jedoch nicht von ihm. Erschrocken sah er dem sudanesischen Fahrer in die entsetzt aufgerissenen Augen. Die Blicke des Mannes irrten umher und suchten nach einer Erklärung dafür, dass der Wagen in dem Moment angesprungen war, in dem er die Fahrertür geöffnet hatte, doch sie fanden keine.
Omar überwand seinen Schrecken und verpasste dem schockierten Mann einen gezielten Schlag gegen die Schläfe. Der Fahrer ging zu Boden. Omar sprang aus dem Fahrerhaus. Sein linkes Bein knickte ein, als er auf dem Boden aufkam. Er begann, die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren, er hatte nur noch wenige Sekunden, bis er die Nanobots abschalten musste. Mit jeder weiteren Sekunde stieg die Wahrscheinlichkeit, dass er neurologische Schäden davontrug. Seine Reserven reichten auf keinen Fall, um den Hangar wieder zu verlassen. Erst musste er abschalten und sich ein wenig regenerieren.
Die Zahl der Verstecke in seiner Nähe war überschaubar. Er huschte hinüber Richtung Tunnelmündung, so schnell er noch konnte, und während zusehends die Kraft und das Gefühl aus seinen Armen und Beinen wichen, schaffte er es bis in einen Winkel hinter der Geröllhalde, wo er vorhin schon gelegen hatte. Mit tauben Fingern tastete er nach dem Schalter in seiner Handfläche.
Aufatmend sank er zu Boden, in den Schutt, als die Nanobots abschalteten. Augenblicklich ließ das Kribbeln in seinen Beinen und Armen nach. Nun würde er für einige Sekunden so gut wie bewegungsunfähig sein.
Da hörte er aufgeregte Rufe. Jemand schien den bewusstlosen Fahrer entdeckt zu haben. In den Gebäuden an den Wänden der Halle sprangen Türen auf, Menschen stürzten hervor.
Omar drückte sich so tief in sein Versteck wie nur möglich. Frühestens in fünf Minuten konnte er die Tarnung wieder aktivieren. Bis dahin musste er hoffen, dass sie ihn hier nicht entdeckten.
Doch sie sahen schon herüber, und Gewehrmündungen zielten in seine Richtung.
Virenkrieg
Erstes Buch
Thriller
Lutz Büge
www.ybersinn.de/news
1. Kapitel
Alles hängt mit allem zusammen
4. Juni 2024
Kala Nera, Griechenland
Nach dem Essen saß Jan Metzner allein auf der Terrasse und blickte auf den Golf von Pagasitikós, in der Hand den Schwenker mit dem unvergleichlichen Brand, den Stavros destillierte, einer seiner Nachbarn und Kunden. Das Zeug war besser als jeder noch so edle Cognac. Die Seele Griechenlands steckte darin. Karstige Hügel und tiefblaues Meer, Rosmarin, Salbei und Thymian – und die speziellen Trauben von jenem besonderen Südhang, die das Licht der Sonne auf ihre ganz eigene, unnachahmliche Weise gespeichert hatten.
Ein leiser Schauer rann Jans Rücken hinab, als er sich klarmachte, dass er im Grunde gerade Sonnenlicht trank, und er hob den Schwenker in Richtung der untergehenden Sonne, prostete ihr zu und fühlte sich einen Moment lang vollkommen mit der Schöpfung und sich selbst im Reinen.
„Dank sei dir“, murmelte er zur Sonnenscheibe, die blutrot im Westen stand, dicht über den Gipfeln des zentralgriechischen Berglands, und fügte hinzu. „Gezeichnet: Echnaton.“
Witziger Gedanke!
Zugegeben, er war nicht mehr ganz nüchtern, wie eigentlich immer, wenn er die Dinge zusammenzuwerfen begann. Echnaton hatte mit Griechenland herzlich wenig zu tun. Doch der altägyptische Pharao, ein Sonnenverehrer, hatte trotzdem etwas verstanden: Alles Leben auf Erden hing von der Sonne ab. Den zugrundeliegenden Prozess, in dem aus Licht Materie wurde, die Photosynthese, verstand man erst seit rund 60 Jahren; so lange hatten die Menschen gebraucht, um aus Glauben Gewissheit werden zu lassen. Sonnenlicht in Verbindung mit Kohlendioxid und Wasser – das war die einfache Lebensgleichung, auf der auch der unvergleichliche Genuss beruhte, den der Brandy von Stavros verschaffte.
Und doch war Sonnenlicht nicht gleich Sonnenlicht. Das eine brannte auf der Haut, das andere brannte von innen. Jan mochte beides. Darum hatte er sich völlig ausgezogen, bevor er sich in den Liegestuhl am Pool hatte sinken lassen, streckte seinen Körper nun den letzten Sonnenstrahlen entgegen und schlürfte vom Brand.
Die Berge am gegenüberliegenden Ufer, dunkel vor den Schleierwolken, die im Licht der untergegangenen Sonne orangefarben nachglühten, das inzwischen fast schwarze Wasser des Golfs mit den Fischkuttern, die in aller Ruhe nach Süden tuckerten, Richtung offenes Meer, die Wärme des Abends, die Ruhe – es war ein bisschen zu viel der Idylle.
Alles hing mit allem zusammen. Das Sonnenlicht mit Stavros‘ edlem Tropfen ebenso wie mit den beunruhigenden Nachrichten und mit dem Frieden hier auf der Halbinsel Pilion, wo Jan seit sieben Jahren lebte. Immer wieder nahm er sich vor, keine Nachrichten mehr zu sehen, aber dann überkam ihn regelmäßig dieses Gefühl, etwas zu verpassen – ein Junkie auf Entzug. Er konnte nicht leben, ohne zu wissen, was draußen vorging, auch wenn dieses Draußen mit der vergessenen Weltgegend, in der er lebte, denkbar wenig zu tun hatte. Dieses Bedürfnis war das Ergebnis seiner Erziehung. Seine Eltern waren das gewesen, was man „homo politicus“ nannte – immer interessiert, immer engagiert und immer auf der Suche nach Zusammenhängen. Und so war eine der Weisheiten, die Jan gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen hatte: Alles hängt mit allem zusammen.
Читать дальше