1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Nun aber nichts wie raus aus dem tristen Umfeld und rein ins Auto. Sie fuhr in die Stadt und steuerte auf eines der wenigen Parkhäuser zu, in denen mittags noch ein Platz zu kriegen war. Das waren die Parkhäuser mit einer stündlichen Gebühr von drei Euro. Seufzend zog sie sich ein Ticket und passierte die Schranke, dann zirkelte sie ihren Wagen gekonnt in eine Parklücke und stieg aus. Obwohl die Gebühren so hoch waren, flackerte in diesem Bereich des Parkhauses nur noch eine einsame Neonröhre müde vor sich hin, während der Rest offenbar seinen Winterschlaf hielt. Weit und breit war niemand zu sehen, weswegen sich Kirsten damit beeilte, zum Ausgang zu kommen. In der Beziehung war sie ein echter Angsthase. Ihr Portemonnaie verwahrte sie immer sicher in der Innentasche, denn sie war keine Handtaschenfreundin. Dennoch bekam sie Angst in dieser düsteren Umgebung. Mit wachsender Erleichterung kam sie dem Sonnenlicht immer näher und nahm hastig zwei Stufen gleichzeitig auf der Treppe zum Ausgang in die Fußgängerzone.
Die meisten Frauen auf der Weihnachtsfeier trugen schicke Cocktailkleider oder sonstige Abendgarderobe und Kirsten war in ihrer Rock-Bluse-Kombination stets als eindeutig underdressed aufgefallen. Das würde sich dieses Jahr ändern, schwor sie sich, und steuerte zielstrebig auf ein Geschäft mit Braut- und Abendmoden zu. Beim Betreten des Ladens erklang ein helles Klingeln von einem Glöckchen und Kirsten zweifelte für einen kurzen Moment daran, dass man hier für Frauen ihrer Altersstufe Klamotten anbot, doch als sie die junge Verkäuferin sah, wusste sie, dass ihre Sorge unbegründet war. Um den flauschigen Teppich tat es ihr leid, sie genierte sich, mit ihren vermatschten Stiefeln darauf zu stehen. Sie spürte förmlich den Matsch unter sich hinwegsickern.
„Guten Tag“, sagte die Verkäuferin freundlich mit einem einnehmenden Lächeln auf dem Gesicht.
„Hallo“, sagte Kirsten etwas unsicher.
„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragte die Verkäuferin.
Hier im Alleingang zu gucken, war sowieso zwecklos. Warum sich dann bei den Preisen nicht eine Beratung gönnen?
„Ja, ich brauche etwas für eine Weihnachtsfeier“, antwortete Kirsten.
„Möchten Sie erst einmal schauen oder soll ich Ihnen helfen?“
Was für eine Frage! Kirsten hatte das Gefühl, dass ihre gesamte Körperhaltung nur eines ausdrückte, und das war HILFE! Diese blondierte Schönheit mit ihrem Kataloglächeln brauchte gar nicht so süffisant zu lächeln, es war offensichtlich genug, dass sie hilfsbedürftig in Sachen Mode war.
„Ich könnte Ihre Hilfe gut gebrauchen“, erwiderte sie wahrheitsgemäß und die Schönheit lächelte gönnerhaft, aber dennoch sympathisch.
„Sie tragen eine 38 bis 40, nehme ich an“, sie musterte Kirsten abschätzend.
Kirsten nickte.
„Möchten Sie etwas Schlichtes oder eher etwas Auffälliges?“, fragte die Verkäuferin weiter.
Als Kirsten nicht gleich antwortete, sagte sie:
„Sie sehen aus wie der klassisch elegante Typ, der gerne gekonnt Akzente setzt.“
Wow, was für eine unerwartet blumige Charakterisierung ihrer schlichten Garderobe! Als Akzent konnte die Schönheit wohl nur den bunten Schal identifiziert haben, denn der klassisch elegante Rest war unauffällig in Beige und Grau und wurde mit dem düsteren Winterhimmel eins.
Schon nahm die Verkäuferin ein erstes Kleid von der Stange, Modell kleines Schwarzes.
„Wie wäre es damit?“
Schwarz war ja nie verkehrt, denn es machte schlank, also nickte Kirsten anerkennend.
„Ja, ist ganz hübsch“, murmelte sie. Aber wahrscheinlich so teuer, dass deine Kreditkarte beim Bezahlen Feuer fängt.
Als nächstes wählte sie ein schwarzes Kleid mit viel Chiffon aus, das deutlich tiefere Einblicke erlaubte als das erste.
„Und dieses hier?“, fragte die Strahlefrau.
Das Kleid war der Wahnsinn, doch das wollte Kirsten sich nicht anmerken lassen, also nickte sie wieder nur.
„Vielleicht auch etwas Farbiges? Lila ist momentan ganz in, und das hier ist ein wahrer Traum aus Seide!“
Sie nahm ein Kleid in Pflaume zur Hand und hielt es Kirsten prüfend hin. Kirstens Herzschlag beschleunigte sich, und sie brachte erneut ein „Ja, ganz hübsch“ über die Lippen. Sie war so wortkarg wie ihr Vater, hatte nicht das fröhliche Temperament ihrer Mutter, die beim Anblick dieser Kleider ganz aus dem Häuschen gewesen wäre. Sie sehnte sich so sehr nach ihrer Mutter und hätte sie hier und heute dringend gebraucht. Oder wenigstens Ulla, Martina oder Franziska, doch die hatten alle ein Nest bezogen mit vielen Kindern darin und keine Zeit für Shoppingtouren mit der kinderlosen, wohlhabenden Kirsten, die für ihr Geld eigentlich nicht einmal arbeiten musste. Ihre Mutter hatte als Innenarchitektin der Reichen und Schönen genug verdient und Kirsten alles vererbt, weil ihr Vater und sie sich einst auf Gütertrennung geeinigt hatten..
„Da sind unsere Umkleidekabinen“, wies ihr die Verkäuferin mit einer Handbewegung den Weg.
Kirsten ging hinter ihr her und bewunderte, wie sie sich auf den Absätzen so elegant bewegen konnte. Dieser Hüftschwung war perfekt, den musste sie bis Samstag unbedingt noch lernen. Die Schönheit hängte die Kleider in der Kabine an eine kleine goldene Stange und lächelte Kirsten aufmunternd zu.
„Wenn Sie Hilfe brauchen, dann rufen Sie mich einfach.“
Kirsten nickte und zog den rauchblauen Vorhang an den schweren Messingösen hinter sich zu. Die Kabine hatte die Größe eines kleinen Kinderzimmers und war üppig möbliert mit einem kleinen Tischchen, zwei Sesselchen und einem Kleiderständer. Mühsam entledigte sie sich ihrer Garderobe und bemerkte mit einer Gänsehaut, wie kalt es ohne die schützende Kleidungsschicht hier war, obwohl die Heizung sicherlich lief. Sie nahm das erste Kleid, das schlichte Schwarze, zur Hand und öffnete vorsichtig den Reißverschluss, um ja nichts kaputtzumachen. Dann zog sie sich das Kleid über den Kopf, zog es zurecht und sah vorsichtig in den Spiegel. Sie sah blass aus, aber nicht schlecht. Es hatte einen Karreeausschnitt und endete an den Knien.
„Soll ich Ihnen vielleicht ein Paar Schuhe bringen?“, fragte die Verkäuferin jenseits des Vorhangs.
„Gerne, Größe 39“, antwortete Kirsten und innerhalb weniger Sekunden wurde ein Paar Pumps mit der Spitze voran unter den Vorhang der Kabine geschoben. Höchstwahrscheinlich beschäftigte sich die Schönheit von Berufs wegen auch mit der Größenanalyse von Damenfüßen unter dem Vorhangsaum.
Sie zog die Schuhe an und stand etwas wackelig vor dem Spiegel. Sie atmete einmal tief durch und schob den schweren Stoff des Vorhangs zur Seite. Die Strahlefrau lächelte sie ermutigend an:
„Das steht Ihnen aber wirklich gut! Soll ich mal den Reißverschluss zumachen?“
Kirsten nickte wieder nur und hielt sich die schulterlangen Haare hoch. Langsam zog die Verkäuferin den Reißverschluss zu und Kirsten trat aus der Kabine heraus vor den großen Spiegel. Es stimmte, das Kleid stand ihr gut. Ungläubig drehte sie sich hin und her.
„Also, das könnte es schon sein“, sagte sie zu der Verkäuferin, um von dieser nicht völlig zum mundfaulen Modemuffel abgestempelt zu werden.
„Es steht Ihnen. Möchten Sie die anderen beiden trotzdem anprobieren?“, fragte diese wieder mit diesem perfekten Zahnpastalächeln, und wiederum nickte Kirsten nur.
Die Verkäuferin öffnete den Reißverschluss wieder, Kirsten ging zurück in die Kabine und schälte sich aus dem Kleid. Erst jetzt wagte sie einen zögerlichen Blick auf das Preisschild. 329 Euro kostete das gute Stück, was irre viel war für ein einziges Kleid, doch Kirstens Stimmung war gekippt. Sie fühlte sich unglaublich gut und hätte wohl jeden Preis bezahlt.
Sie nahm das Chiffonkleid und probierte es ebenfalls an. Es war mehrlagig und genau das, was Kirsten normalerweise abfällig als „Flatterfetzen“ bezeichnet hatte. Doch es saß perfekt und machte aus der langweiligen Kirsten augenblicklich eine attraktive Frau, wie verwandelt durch den gutmütigen Stab einer kleinen, fröhlichen Fee. Wieder schob sie den Vorhang beiseite und sah die Verkäuferin erwartungsvoll an. Diese strahlte über das ganze Gesicht und hauchte ein „Wunderbar!“ Wieder drehte sie sich vor dem Spiegel hin und her und stellte fest, dass dieses Kleid ganz eindeutig unter die Kategorie sexy fiel.
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