Ihre Phantasie sponn weiter, sponn sich zusammen, dass der hübsche Jüngling tatsächlich mehr von ihr wollte als einen harmlosen Küchen-Smalltalk. Diese Gedanken daran, diese Phantasien, zählten die schon als Betrug? Nein, beruhigte sie sich, das spinnst du dir doch sowieso nur zusammen.
Was hätte ihre Mutter in einer solchen Situation wohl gedacht? Was hätte sie gefühlt, was hätte sie ihrer Tochter geraten?
In einem Anflug von Wehmut ging sie ins Wohnzimmer und kramte ihr altes Fotoalbum aus dem Schubfach hervor. Entstanden vor dem Zeitalter der digitalen Fotografie.
Sie übersprang die ganzen Kinderfotos und stieg ein in der Zeit um ihr Abitur. Sie sah sich und Ulla Arm im Arm vor den Pyramiden am Eingang des Louvre stehen, neben dem Grab von Jim Morrison und ein Foto, das Ulla von ihr und einem Verehrer namens Sören gemacht hatte, der ebenfalls seinen ersten Urlaub in Schulfreiheit in Paris verbracht hatte. Sie zog auf dem Bild mit ihm genüsslich an einer Zigarette, er hielt sie lässig im Arm und grinste selbstgefällig. Sören und wie weiter? Der Nachname blieb verschollen in ihrem alternden Langzeitgedächtnis. Irgendwann flogen halt die unwichtigen Infos über Bord, und der Nachname eines Typen, mit dem sie vor 13 Jahren in Paris einen Joint geraucht und anschließend eine erbärmliche, bekiffte Kicher-Nummer geschoben hatte, war so eine unwichtige Info.
Dann fand sie das Bild, das sie suchte. Ihre Mutter mit ihrem Vater tanzend auf ihrer Silberhochzeit. Sie tanzten Twist, sie lachte und ließ ihren Petticoat schwingen – ihr Faible für die Sechziger war mitreißend gewesen und sie hatte die Party ganz im Stile dieser Zeit ausgerichtet. Die beiden flirteten miteinander wie zwei Honigkuchenpferde, kurz, sie wirkten sehr glücklich miteinander. Sie stand klatschend am Rand und trug ein gepunktetes Minikleid, Ballerinas und eine furchtbare Schleife im Haar. Neben ihr stand Sven, ein netter Kerl, mit dem sie damals zusammen gewesen war. Sven, den sie für Florian verlassen hatte. Dumm gelaufen, mit Sven hättest du bestimmt mehr Spaß haben können als mit der Mensch gewordenen Spaßbremse.
So glücklich hatte sie ihren Vater nach dem Tod ihrer Mutter nie wieder gesehen. Und Kirsten hatte mit ihrem Tod ihre ganze Leichtigkeit eingebüßt. Der Tod ihrer Mutter hatte aus Kirsten eine andere Frau gemacht, die meilenweit entfernt war von der spontanen, lustigen, qualmenden, Sex habenden Kiki. Die Kirsten heute war geplagt von Zweifeln, Ängsten und gönnte sich kaum mehr ein Vergnügen. Der ernsthafte Mann, den sie geheiratet hatte, versetzte ihrem wilden Wesen zusätzlich den Todesstoß.
Zurück blieb eine Frau, die sich auf den Bildern von einst kaum wiedererkannte. Die beim Anblick der Bilder aber ein sehnsüchtiges Ziehen verspürte und sich dazu entschloss, etwas zu ändern, um ihrem Glück wieder auf die Sprünge zu helfen.
Am Montag ging Kirsten wie gewohnt zur Arbeit in das Büro ihres Vaters. Der musterte sie beim Betreten des Hauses kritisch wie immer durch die offene Bürotür und murmelte über den Rand seiner kleinen Lesebrille hinweg ein mürrisches „Morgen“. Dann sah er wieder in die Tageszeitung, die er vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte.
Kirsten zog ihren Mantel und die triefenden Schuhe aus, legte ihre vom Schneeregen durchnässte Mütze, den Schal und die Handschuhe auf die Heizung im Flur und ging zu der kleinen Kaffeestation.
„Möchtest du auch was zu trinken, Papa?“, fragte sie laut und als Antwort kam nur ein genuscheltes „Mhmh“.
Sie drückte den Knopf für den Kaffee und der Automat begann zu arbeiten. In der Zwischenzeit schlüpfte sie in die bequemen Schuhe, die unter ihrem Schreibtisch standen. Eigentlich lief sie gerne auf Socken herum, doch ihr Vater fand die Aussicht auf eine schuhlose Sekretärin indiskutabel, auch wenn fast nie jemand kam, während sie anwesend war. Tochter hin oder her, er hatte gewisse Ansprüche, die es einzuhalten galt. Vorsichtig nahm sie die Tasse mit dem heißen Inhalt vom Gitter herunter und balancierte sie durch den Gang in das Büro ihres Vaters. Ihr eigener Schreibtisch stand im Flur, der allerdings so großzügig war, dass er von der Quadratmeterzahl her locker mit dem Büro konkurrieren konnte. Ihr Vater hatte ihren Schreibtisch ungefragt in den Flur gestellt, als Kirsten begann, für ihn zu arbeiten. Die Enttäuschung über ihren Studienabbruch hatte er bis heute nicht verkraftet und es gab Tage, da behandelte er sie wie eine Aussätzige. Heute war wieder mal so ein Tag. Für den Kaffee bedankte er sich mit knapper Mühe und Not und gab Kirsten zu verstehen, dass seinerseits keinerlei Interesse an einem Gespräch bestand. So ging sie wieder aus dem Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Ihr war bewusst, dass er sie nur bei sich arbeiten ließ, um dritten gegenüber nach dem Studienabbruch zu allem Überfluss nicht auch noch die daraus resultierende Arbeitslosigkeit seiner Tochter eingestehen zu müssen. Da seine damalige Sekretärin zu dieser Zeit sowieso mit dem Gedanken spielte, in Altersteilzeit zu gehen, hatte er Kirsten den Posten verschafft.
Trotz der Kürze ihres Treffens bemerkte sie, dass er müde aussah, müde und irgendwie krank. Sie beschloss, ihn später darauf anzusprechen, wenn sich seine Laune gebessert hatte. Sie kannte und fürchtete seine Morgenmuffeligkeit noch bestens aus den Zeiten ihres Zusammenlebens.
Heute gab es nicht so viel zu tun. Den Ablagekorb hatte sie fast geleert am Freitag, einem Auftraggeber musste sie ein Angebot zusammenstellen und ansonsten die normal anfallende tägliche Arbeit erledigen.
Innerlich ging sie durch, was sie nach Feierabend in dieser Woche alles erledigen musste, um am Samstag eine gute Figur zu machen. Sie brauchte einen Termin bei der Kosmetik, nun wirklich, und am besten spätestens Donnerstag, damit bis Samstag alle Rötungen verschwunden waren, die ihr die Kosmetik bescheren würde. Ein Hautbild, das dem eines an Windpocken erkrankten Kindes glich, konnte sie auf keinen Fall gebrauchen, obwohl ihr damit die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste sicher gewesen wäre.
Sie brauchte außerdem einen Termin beim Frisör, denn ihr Schnitt gefiel ihr schon seit längerem nicht mehr und nun war die Gelegenheit, endlich etwas zu ändern und Mut zu besitzen. Ihre beste Freundin Ulla stichelte schon ewig und zog sie damit auf, dass sie eine Puttchen-Frisur trage. „Ehrlich, Kiki, damit siehst du glatte zwanzig Jahre älter aus.“ Bisher hatte sie über diese wundervollen Komplimente stets mit juckendem Ohr hinweggehört, aber nun würde sie handeln. Au weia, meine schönen Haare...
Und sie brauchte neue Klamotten. Definitiv. Mit dem, was sie an Kleidung im Schrank hatte, würde sie alles andere als Eindruck schinden. Ganz im Gegenteil, mit dem grauen Unikum von der letzten Feier konnte sie sich glatt vor einem Betonpfeiler unsichtbar machen. Für „Mut zur Farbe“, hatte Ulla plädiert, vergebens. Sie hatte sich für den Look eines Elefanten entschieden, allerdings für den eines magersüchtigen Elefanten, denn immerhin war sie schlank. Gute Gene, geerbt von ihrer Mutter.
Mit der Kleidersuche würde sie gleich heute anfangen. Das konnte sich hinziehen...
Der Vormittag verstrich so langsam wie ein schlechter Film. Es tat sich fast nichts, ihr Vater kam nicht ein einziges Mal aus seinem Büro heraus oder nahm sonst irgendwie Kontakt zu ihr auf, außer beruflichen. Und seit er E-Mails für sich entdeckt hatte, nutzte er dieses Medium, anstatt persönlich mit seiner Tochter im Nebenflur zu kommunizieren. 12:55 schaltete sie den PC aus, zog sich den Mantel und den Rest ihrer Wintergarderobe wieder an, öffnete die Tür zum Raum ihres Vaters einen Spalt breit und rief „Tschüß, Papa!“
Wieder kam nur das bekannte „Hmhm“ zurück.
Auf sein krankes Aussehen würde sie ihn morgen ansprechen. Für einen Korb war ihre Laune schon mies genug. Das würde ihr den Schwung zum Shoppen endgültig rauben.
Читать дальше