»Nun lass den Buben in Frieden und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten! Hör auf zu murren, du bist schließlich nicht zum Schimpfen hier.«
Von oben drang das Gekicher der Mädchen zu mir, dann sprang jemand leichtfüßig die Treppe hinunter. Hinter den beiden Frauen erhaschte ich einen Blick auf Ida – im weißen Kleidchen und mit einem geflochtenem Kranz aus Blumen auf dem Kopf. Vor dem Haus herrschte buntes Stimmengewirr. Ich hörte Elena nach Katharina rufen.
Es fiel mir schlagartig ein: Heute war der große Tag, das Hochzeitsfest! Elena und Phillip würden heiraten. Darum lag diese Aufregung über dem Haus, deshalb die Unruhe. Festliche Betriebsamkeit hatte sich breit gemacht, Dinge mussten getan und erledigt werden, welcher Art sie auch immer sein mochten. Und ich hatte verschlafen!
Ich hatte keinerlei Ahnung von Küchenarbeit, von Pfannen und Töpfen, erst recht nicht von Kleidern, Haarschmuck, Blumengebinden oder dem anderen Weiberkram und stand unschlüssig herum.
Der Meister steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Ah, Adam, guten Morgen! Du kannst draußen zur Hand gehen und beim Schmücken der Kutsche helfen.«
»Steht rum und hält Maulaffenfeil«, mischte sich wieder die ein, die zuvor mit Martha angesprochen worden war.
»Lasst den Jungen doch erstmal was essen; der ist ja noch gar nicht richtig wach!«, gab die ältere Frau zurück und zwinkerte mir wohlgesonnen zu.
»Ja, aber ja, natürlich. Und danach zieh dich um! Dort hab ich was für dich hingelegt.« Meister Esau wirkte auffallend zerstreut und deutete mit dem Kopf in eine unbestimmte Richtung. In seinem besten Sonntagsstaat (auch er mit neuem Hemd und neuer Weste), drehte er sich einmal um sich selbst, kratzte sich an der Stirn und schien vergessen zu haben, weshalb er eigentlich in die Küche gekommen war.
Ich nickte nur; mein Mund war zu trocken, um etwas darauf zu erwidern. Der Meister marschierte wieder hinaus, die beiden Frauen eilten ihm hinterher, und ich atmete erleichtert auf. Niemand hatte mir etwas angemerkt – alle waren viel zu aufgeregt und zu beschäftigt.
Über dem Stuhl vor meinem Platz hing ein nagelneues, weißes Leinenhemd. Ich zog das alte Hemd aus und streifte das neue über. Es kratzte unangenehm auf der Haut. Mein Magen begann zu knurren, und ich stahl mir eine Scheibe von einem Braten.
Hinter meinem Rücken in der Kammer scharrte ein Pferdefuß über die Dielen, und es klang wie ein zärtliches Lied, dessen Refrain aus nur einem einzigen Wort bestand, als der Teufel leise raunte: »Sünder!«
Ich hatte keine Angst vor dem Teufel. Nein, hatte ich nicht. Über vierzehn Jahre lang, seit meiner Geburt, hatte er sich vor mir verborgen gehalten. Den Ritt auf seinem Rücken in der allerersten Stunde meines Lebens, den hatte ich längst vergessen. In der Tat hatte ich nicht eine Sekunde an seine Existenz geglaubt! Selbst in den Stunden, in denen Pfarrer Michels des Sonntags seine Predigten von der Kanzel den Kirchgängern entgegen schmetterte, wenn er die sieben Höllen in all ihren grausigen Einzelheiten beschrieb, wenn er die unzähligen Strafen Luzifers und seiner tausend Helfershelfer in derart glühende Worte kleidete, die auf der Seele brannten wie heiße Kohleeisen auf der nackten Haut, so dass alle Schäflein in ihren Bänken erschauderten und sich nach der Messe vor dem Beichtstuhl einreihten, um Vergebung zu erfahren, war ich überzeugt, dieser Hokuspokus sei nichts weiter als der schallgewordene Wahnsinn eines kleinen Mannes, der in seinem fleckigen Talar wichtigtuerisch hinter dem Altar auf und ab hüpfte.
Der Teufel war für mich eine nebelhafte Fantasie in Rot und Schwarz.
Trotz alledem hatte ich nicht den geringsten Zweifel, wessen Finger in eben diesem Augenblick sanft über meinen Nacken streiften. Eine lang vergessene, und doch so vertraute Berührung. Gänzlich anders und zärtlicher noch, als die der vergangenen Nacht.
»Adam ...«, summte er mir über die Schulter in das gesunde Ohr. »Adam ..!«
Nein, ich hatte keine Angst vor dem Teufel. Ich drehte mich langsam um – und vor meinen Augen löste der Schwarze sich in Rauch auf. Mit ihm verblassten der rote und der weiße Fleck auf meinem Laken, und ihr Schwinden ließ die Ereignisse der letzten Stunden zu einer unwirklichen Erinnerung werden.
*
III
Es wäre falsch, die alten Verhältnisse in der Tischlerei als ärmlich zu bezeichnen, aber beinah über Nacht war ein bescheidener Wohlstand in das Haus eingezogen, der sich überall durch Kleinigkeiten zeigte: Hier lagen neue Kissen, dort fand sich ein neuer Kerzenhalter. Alles war im Wandel.
Nach Elenas Heirat und ihrem damit verbundenem Auszug in die elterliche Bäckerei ihres Mannes, hatte ich meine Kammer hinter der Küche verlassen und war eine Treppe höher in das verwaiste Zimmer gezogen. Anfangs fühlte ich mich ein wenig verloren in dem großen Raum, doch das weiche Bett, das mir riesig erschien, mit der dicken Matratze und den warmen Decken gefiel mir. Nebenan lagen die Schlafzimmer von Meister Esau und dahinter die seiner zwei anderen Töchtern.
Über uns befand sich der Dachboden und in den ersten Nächten mit den Maigewittern tat ich kein Auge zu, denn das Gebälk knirschte und ächzte angestrengt unter den Windböen, und jeder Donnerschlag kündete von Jericho und dem nahenden Ende der Welt. Ich machte mir keinen Sorgen um den Dachstuhl, immerhin hatte der Meister seinerzeit selbst mit den Zimmerleuten Hand daran angelegt, aber der Lärm und die ungewohnten Geräusche hielten mich über Stunden wach.
Wenn mich dann doch im frühen Morgengrauen der Schlaf fand, träumte ich unruhig und wild von unter mir hinweg gleitenden Landschaften, von entwaldeten Hügeln und sturmgepeitschten Seen.
Gerne wäre ich zurück in meine vertraute Kammer mit dem winzigen Fenster geflohen, doch schon zwei Tage nach dem Hochzeitsfest war das junge Ding aus dem Dorf dort eingezogen, das mir bei unserem ersten Treffen in der Küche durch ihr freches Mundwerk aufgefallen war. Das Mädchen, Martha, sollte im Haushalt zur Hand gehen und Katharina-Maria und Ida-Maria einen Teil der Arbeit abnehmen.
Martha war von rundlicher Statur und hatte ein Apfelgesicht mit roten Wangen und den ständig wachsamen Augen eines Luchses. Als drittes von zwölf Kindern hatte sie sich daheim das Bett mit zwei Geschwistern teilen müssen, war es gewohnt, überall mit anzupacken, wo Hilfe von Nöten war und scheute keine Mühe, uns das Leben in der Tischlerei zu erleichtern, sodass sie sich bald im Haus unentbehrlich machte. Die Stuben waren sauberer als früher, die Wäsche wurde öfter gewaschen und auf den Tisch kamen jeden Abend Speisen, von denen ich bis dahin lediglich die Namen gehört hatte.
Nach den wütend polternden Nächten zeigte sich der launische Mai tagsüber von seiner allerbesten Seite, die Sonne brannte und es war heißer als im Hochsommer. Soviel Wasser, wie ich bei der Arbeit ausschwitzte, konnte ich kaum trinken, obwohl die fürsorgliche Martha uns krügeweise mit kühlem Kräutertee versorgte.
Einige Tage lang machte der fehlende Schlaf mir wenig zu schaffen. Doch dann, nach fast zwei Wochen Hitze und nächtlichen Gewittern, flimmerte mir eines Morgens der Hobel vor den Augen. Schwindel packte mich, mir wurde heiß und kalt zugleich und ich verlor das Bewusstsein.
Es war ein Flüstern: »Wach auf, Adam!«
»Wer bist du?«
»Du darfst mich nicht verleugnen, alter Kamerad!«
Er hatte sich über mich gebeugt. Ich schnappte nach Luft, und wie schon einmal zuvor, berauschte mich sein animalischer Geruch, betäubte mich und ließ mich taumeln.
Sein schwarzseidener Umhang streifte flüchtig meinen Unterarm, und in seinen Pupillen sah ich das Höllenfeuer aus Folter, Plünderei und Vergewaltigung lodern. Er kam noch etwas näher, und deutlich erkannte ich in den Flammen tausende Gesichter, junge und alte mit weit aufgerissenen Mäulern, blickte in die verzerrten Fratzen all der verlorenen Kreaturen, die sich in der gleißenden Hitze vor Qualen drehten und wandten.
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