In der einsetzenden Abenddämmerung liefen wir durch das Gras und zogen unsere Drachen, die mühelos aufstiegen, hinter uns her. Wir gaben ihnen Stück für Stück mehr Leine und sahen zu, wie der neugierige Wind, der sie schnell höher trug, besitzergreifend an ihnen zog.
Dann stießen wir zwei Äste in den Boden, banden die Schnüre daran fest und überließen die Drachen sich selbst und den Lüften. Sebastian zog sein Hemd aus, legte es ins Gras und setzte sich darauf. Ich tat es ihm gleich. Er packte Wein und Käse aus, schenkte die Becher voll und stieß mit mir an.
»Auf das Leben!«, rief er laut.
»Auf das Leben! Auf die Schreinerei! Auf den Meister, der uns den Wein spendiert hat! Auf die Wanderschaft, die dich hierher geführt hat! Auf dich! Soll alles so bleiben, wie es ist!«, übertrumpfte ich ihn.
Der Rotwein war süffig und stieg mir schnell zu Kopf. Bald hatte ich das Gefühl, dass mein Gesicht glühte. Sebastian schnitt mit seinem Klappmesser Stück um Stück von dem Käse ab und reichte es abwechselnd mir, dann steckte er sich selbst eins in den Mund.
Während wir in den Himmel schauten, begannen wir herumzualbern. Wir machten Scherze und dachten uns Namen für unsere Drachen aus: Caesar und Kleopatra zum Beispiel, Siegfried und Kriemhild oder gar Pfarrer Michels und Fräulein Rinker. Die Fantasie ging mit uns durch und wir versuchten, uns gegenseitig mit den verrücktesten Einfällen zu überbieten.
Irgendwann rief ich: »Jetzt weiß ich! Ich nenne ihn einfach Sebastian.«
Er strahlte mich an. Auf seiner Wange, dort, wo bei mir die Narbe saß, zeigte sich ein Grübchen.
»Dann soll meiner Adam heißen. Das ist gut! Adam und Sebastian fliegen durch die Luft!«
Die Welt schien mir vollkommen, alles war gut, so wie es war. Der Wind, die Bäume, der Himmel. Sebastian und ich.
Aus dem Unterholz am Waldrand hörte ich Zweige knacken. Ich sah ein Eichhörnchen flink eine Eiche hochklettern und im Blattwerk der Krone verschwinden. Ein Krähenschwarm flog aufgeregt auf. Aus dem Schwarm löste sich ein einzelner Vogel, größer als die anderen, und stieß mit zornigem Gekrächze auf meinen Drachen herab. Die Bespannung riss auf, der Drache trudelte in weiten Spiralen zur Erde und seine Schnur verhedderte sich mit der des anderen. Beide Fluggeräte gerieten ins Taumeln, und schließlich krachten sie am Fuße eines Baumes auf die Erde.
Wir rannten zu der Stelle, um den Schaden zu begutachten, doch offensichtlich war nichts mehr zu retten. Henni schnüffelte neugierig an den zertrümmerten Teilen. Sebastian bückte sich und hob das heillose Gewirr aus Stoff, Schnur und zersplitterten Stäben hoch.
»Weißt du, Adam, ich liebe dich.«
Er sagte es, als sei es selbstverständlich. Völlig unbeschwert und fröhlich klangen sein Worte.
»Und wenn ich einmal sterben muss, dann soll es genau so enden: Arm in Arm mit dir vom Himmel stürzen«, lachte er.
Ich schaute dem schwarzgefiederten Teufel, der über uns kreischend seine Kreise zog, hinterher. Dann sah ich ihn an und sagte: »Ja.«
Wenn ich heute zurück blicke, weiß ich, dass auch ich ihn liebte – vielleicht nicht mit dieser unschuldigen Aufrichtigkeit, die er mir entgegenbrachte und die ihn beinah das Leben gekostet hätte, weil sie mit ihrer Reinheit den Neid des Teufels hervorrief. Aber doch auf diese, in meinem Leben einzigartige, mir so uneigennützig wie mögliche Weise. Am Tag des jüngsten Gerichts allerdings, und daran, dass dieser Tag kommen wird, hege ich keine Zweifel mehr, wenn ich also vor Gericht stehe, wird dieses kleine bisschen Liebe, das auf der einen Seite in die Waagschale gelegt werden wird, nur unwesentlich zu meinen Gunsten beitragen, denn alles andere, jede einzelne meiner vielen Sünden wiegt ungleich viel mehr als die Summe all meiner guten Taten oder Eigenschaften. So wird Gott mich gleich zweimal trennen von denen, die mir etwas bedeuteten – erst in diesem, dann auch im nächsten Leben. Und das wird, allen Feuerqualen der Hölle zum Trotz, die schlimmste aller Strafen sein.
Der Michaelistag kam, und am darauf folgenden Sonntag feierte man im Dorf das Erntedankfest.
Die Hauptstraße und der Kirchplatz waren reich mit farbenfrohen Teppichen aus Gräsern, Getreide und Blüten geschmückt; bei der Prozession wurde die prächtige Erntekrone aus geflochtenen Ähren feierlich von sechs Männern auf einer Bahre in die Kirche getragen, und Pfarrer Michels Rede war gegen seine üblichen Gepflogenheiten einmal weniger von Verdammnis und Sündenfall geprägt, sondern war voll des Lobes und des Dankes an den Schöpfer und klang fast schon heiter, ja beschwingt.
»Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten«, endete er seine Predigt.
Die Ernte war in diesem Jahr auch ohne Tränen sehr üppig ausgefallen, und entsprechend gut gelaunt wurde nach der Messe gefeiert.
Der Tag war sonnig und ausgesprochen mild. Das ganze Dorf war auf den Beinen, schleppte Tische und Stühle auf den Platz, und aus jedem Haus trugen die Frauen Brote, Suppen, Braten und Pasteten herbei, wobei es schien, dass jede von ihnen versucht hatte, die Nachbarin mit den gebackenen, gebratenen und gesottenen Köstlichkeiten zu übertreffen. Die besten Kuchen hatte zweifelsohne Phillip, Elenas Mann, gebacken, doch auch die vielen anderen Leckereien ließen keine Wünsche offen. Großzügig wurden Bier und Wein ausgeschenkt, und als die Kapelle zu schnelleren Melodien wechselte, fingen die Ersten an zu tanzen.
Für mich war das neu, denn meine Großmutter, die Feiern und jegliche Form von Ausgelassenheit stets verdammt hatte, war früher nach den Gottesdiensten geradewegs mit mir zurück zum Hof gelaufen.
Ich für meinen Teil genoss das Fest umso mehr; ich lachte, schlemmte und fühlte mich wie berauscht, als Sebastian für einen kurzen Moment sein Hand unter dem Tisch auf meinen Oberschenkel legte. Just in diesem Augenblick kam Ida zu uns herüber, fasste mich an die Hand und zog mich zum Tanzen fort. Ich sah, wie Sebastian sich köstlich über meine ungelenken Bewegungen und meine Versuche, mit Ida Schritt zu halten, amüsierte. Ich genierte mich schrecklich, doch als er selber von einem anderen Mädchen aufgefordert wurde, sah ich, dass er kein bisschen besser tanzen konnte als ich oder die anderen jungen Männer aus dem Dorf, und hatte nun meinen Spaß daran, ihm spöttische Blicke zuzuwerfen. Sebastian wiederum machte sich einen Jux daraus, mich beim Tanzen mit dem Ellbogen anzurempeln oder mir absichtlich auf den Fuß zu treten, wenn er mir nahe kam, und er entschuldigte sich jedes Mal übertrieben höflich mit »Oh verzeiht, werter Hupfgeselle!«, was die Mädchen zum Kichern brachte.
Wein und Essen wollten kein Ende nehmen und so kam, was kommen musste: Als der Abend dämmerte, hatte ich mich überfressen und auch das ein oder andere Glas Wein zuviel getrunken. Mir wurde so übel, dass ich mich fortstahl und abseits der Häuser in ein Gebüsch übergab.
»Ksch!«
Ich fuhr überrascht herum. Halbverborgen im Schatten einer Hauswand stand eine fremde Gestalt, die mich unter der Kapuze eines weiten Umhangs unverwandt ansah.
»Wer ist da?«
»Du solltest schleunigst zusehen, dass du nüchtern wirst! Ich brauche deine Hilfe.«
An ihrer Stimme erkannte ich jetzt die Wurzel-Nele.
»Hilfe? Wobei? Wovon redest du?« Ich wischte mir mit dem Ärmel über den Mund und atmete tief durch.
»Komm mit, dann wirst du’s sehen!«
»Was? Was werd ich sehen?«
»Keine Zeit. Komm!«, drängte sie.
»Adam geht nirgendwo hin. Wer bist du überhaupt?«
Hinter mir war Sebastian aufgetaucht. Mein treuer Sebastian, der mich keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte und mir mit Henni an seiner Seite gefolgt war.
Nele trat aus dem Schatten. Ihre Augen waren rot unterlaufen, so als ob sie geweint hätte. Strähnen lösten sich aus ihrem hochgesteckten Haar, und sie sah abgekämpft und müde aus. Gleichzeitig wirkte sie gefasst, beinahe hochnäsig, als sie antwortete.
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