Lange lag ich wach.
*
VIII
Am nächsten Morgen war die Welt eine andere geworden; für mich wie auch für ihn. Wir versuchten erst gar nicht, so zu tun, als wäre nichts geschehen.
Sebastian hatte sich in einer Ecke der Werkstatt ein Nachtlager aus Decken gerichtet. Doch ebenso wie ich, hatte auch er offensichtlich keinen Schlaf gefunden; tiefblaue Schatten lagen unter seinen Augen, und übernächtigte Blässe hatte das sonst so frische Rot seiner Wangen verdrängt.
Über Nacht hatte Regen eingesetzt. Dicke Tropfen prasselten gegen die Scheiben, und trübes Licht sickerte träge in die Werkstatt. Der Herbst schickte seine windigen Boten voraus. Der Meister hatte es sich in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht, morgens ein wenig länger im Bett liegen zu bleiben, und so waren wir zwei, Sebastian und ich, zu dieser frühen Stunde unter uns.
Etwas berührte meine Seele, als ich ihn übermüdet an der Hobelbank hantieren sah. Er spannte umständlich ein Tischbein in die Drehbank, die Lippen vor Konzentration fest aufeinander gepresst. Ich blieb stehen.
Als ich – verwundert über mich selbst – seine kräftigen Schultern und die sehnigen Arme betrachtete, nahm in mir ein Wunsch seine irrlichternde Gestallt an, der, und ich schwöre es, nicht von körperlicher Natur war. Alles, was ich mir in diesem Moment wünschte, war, dass Sebastian für immer in meiner Nähe sein möge. Ich atmete tief ein und wieder aus.
Als er mich bemerkte, sah er mich beschämt an. Nach einer Weile nickte er langsam.
»Du bist wütend«, stellte er fest.
Ja, das war ich. Aber nicht auf ihn. Wie hätte ich wütend auf ihn sein können? Wie sollte ich zugeben, dass genau das passiert war, von dem ich nicht gewusst hatte, dass ich es mir insgeheim gewünscht hatte? Also schwieg ich.
»Kann ich verstehen. Das war dumm von mir.« Und dann, nach einer Pause, sagte er: »Es tut mir leid.«
Das Tischbein rutschte aus den Spannbacken und krachte dumpf auf den Boden.
Ich hob es auf, reichte es ihm, und als er es fasste, hielten wir beide das Stück Holz für einen Augenblick fest.
Mehr brauchte es nicht, um das stille Einverständnis zwischen uns wieder herzustellen. Eine Zeit lang standen wir einfach nur da, unschlüssig schwankend in dieser Mischung aus Verlegenheit, Erleichterung und Hochgefühl. Etwas brannte mir auf der Zunge, eine Gewissheit fand ihren Weg, doch der Moment verstrich, ohne dass mir ein Geständnis über die Lippen kommen wollte.
»Du siehst aus wie ein Haufen Katzenscheiße«, grinste er schließlich.
»Na, das sagt gerade der Richtige. Hast du schon in den Spiegel geschaut?«, gab ich zurück.
Der Regen ließ nach, warmgolden brach die Morgensonne durch die Fenster.
Meister Esau polterte in die Werkstatt und schmetterte uns gut gelaunt »Männer, ans Werk!« entgegen.
Die folgenden Wochen verflogen. Nie wieder habe ich soviel gelacht wie zu jener Zeit. Wir waren mit Eifer bei der Arbeit, waren flink und trieben manchmal sogar unsere Späße mit dem Meister, wenn uns der Schalk im Nacken saß. Doch er war überaus zufrieden mit dem, was wir leisteten, und natürlich war er froh über das Geld, das mit den neuen Aufträgen reichlich in die Kasse floss, und schüttelte daher nachsichtig den Kopf und ließ uns gewähren.
Abends hatten wir einen Bärenhunger, und nach dem Essen zog es uns hinaus ins Freie. Wir strichen durch die Felder, wanderten durch den Wald oder setzten uns ans Ufer des nahen Sees. Wir redeten oder schwiegen und waren uns selbst genug. Wir brauchten keine Gesellschaft, außer die des anderen. Nachts legte er seinen Arm um mich. Er grub seine Nase in meinen Nacken, und morgens erwachten wir in der gleichen Stellung, in der wir eingeschlafen waren.
Wie und wo er das Tier aufgelesen hatte, konnte ich nicht sagen. Aber eines Abends war Sebastian für eine gute Stunde verschwunden, und als er wiederkam, trug er diesen rotbraunen Welpen auf dem Arm.
»Sollte ersäuft werden, unsere kleine Schönheit. Eine Schande, sage ich«, war die knappe Erklärung, die er abgab.
Meister Esau hatte zunächst Vorbehalte und verlangte, dass Sebastian die Hündin zurückbrachte. Als er jedoch sah, wie verliebt seine Töchter das Tier streichelten und liebkosten, hatte er ein Einsehen und gab nach.
»Nun ja. Ein ordentlicher Hofhund kann nicht schaden«, brummte er, und damit war die Sache abgetan.
Wir tauften die Hündin, augenscheinlich eine Mischung aus Bardino und anderen, nicht näher erkennbaren Rassen, auf den Namen Henriette (ein Vorschlag, der von Ida kam – ihre Lieblingspuppe, deren Haar die gleiche Farbe hatte wie das Fell des Welpen, hieß ebenso), doch schon bald riefen wir sie nur noch Henni.
Henni war als Geschenk an mich gedacht gewesen, aber alle im Haus, selbst Meister Esau, schlossen sie binnen kürzester Zeit ins Herz. Die Hündin wiederum verteilte ihre Zuneigung weniger gerecht. Zwar begrüßte sie uns alle mit freudigem Schwanzwedeln und leckte jede Hand zutraulich, die sich ihr entgegenstreckte, doch Sebastian, grad so, als wüsste sie, wem sie ihr Leben zu verdanken hatte, blieb von der ersten Stunde an ihr Favorit und Liebling.
Das Laub begann seine Farbe zu wechseln, der September neigte sich dem Ende zu. Langsam mischten sich braungelbe Flecken unter das Grün, und die Tage wurden kürzer. Mit den Herbstwinden wurden wir übermütig. Wir hatten Schulter an Schulter im Gras gelegen und den ersten Zugvögeln bei ihrer Reise gen Süden nachgeschaut, als Sebastian sagte: »Stell dir vor, du könntest fliegen! Wäre das nicht herrlich? Einfach so von Land zu Land, keine Grenzen, völlig frei ... Und wo’s dir gefällt, da bleibst du eine Weile. Bis du Lust hast, weiter zu ziehen. Wohin würdest du fliegen wollen?«
Visionen von verwüsteten Landschaften, über die ich hinweg glitt, tauchten jäh vor mir auf. Henni, die eingerollt friedlich auf meinem Bauch geschlummert hatte, sprang mit einem Kläffen auf. Die Bilder von flammenden Feldern und verkohlten Baumskeletten enthüllten eine Drohung, und um sie zu verwischen, damit sie keine Macht bekamen, sagte ich schnell: »Ich glaube nicht, dass wir zum Fliegen geschaffen sind.«
Henni hatte sich an Sebastians Seite verkrochen.
»Da magst du Recht haben. Hier unten im Gras gefällt es mir gerade auch ganz gut.« Er zwinkerte mir zu. »Aber ich habe eine Idee.«
Die Bilder in meinem Kopf verblassten. Sebastian kraulte der Hündin den Nacken, dehnte die Pause genussvoll aus und wartete, bis meine Neugier wuchs.
»Nun sag schon!«
»Lass uns Drachen bauen! Die können für uns den Himmel erobern, während wir brav am Boden bleiben.«
Was für ein Einfall! Noch am selben Abend stibitzten wir Martha ein altes Laken aus dem Wäscheschrank, bestrichen das Leinen vorsichtig mit verdünntem Kleister, klebten vier federleichte Holzstäbe zu zwei Kreuzen zusammen und zogen die zurechtgeschnittenen Stoffteile darauf auf. Immer wieder berührten sich unsere Hände bei der Arbeit, mal aus Versehen, meistens aus purer Absicht. Säuberlich schlugen wir die Stoffkanten um und während alles trocknete, falteten wir aus Zeitungspapier Schleifen für die Drachenschwänze. Beim Krämer im Dorf besorgten wir uns am nächsten Tag feinste Angelschnur, und den Meister erleichterten wir heimlich um eine Flasche von seinem besten Roten.
Mit unseren Drachen, der Flasche Wein, zwei Bechern und einem großen Stück Käse zogen wir los und suchten nach einem Platz, der uns zusagte.
Wir hatten den See schon halb umrundet, und die Birken warfen lange Schatten, als wir eine stille, friedliche Wiese fanden. Ich war früher schon einmal hier gewesen. Doch mit dem Freund an meiner Seite war es anders. Der Ort wurde zu etwas Besonderem.
Der Wind fuhr in sanften Böen durch die Baumkronen und ließ die Blätter rauschen. Henni sprang voraus, bellte verspielt und scheuchte eine Entenfamilie auf, die sich schimpfend aufs Wasser flüchtete. Ein paar Krähen schrien.
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