Dort hatte er sie erst einmal beiseitegelegt, um sie später, nach einigen Änderungen in der Präsentation seiner Sammlung, dieser dann hinzuzufügen.
Und jetzt war ausgerechnet diese Figur verschwunden!
Seiner Tochter Chiara, die sein Interesse für Kunst geteilt hatte, hätte die kleine Holzfigur sicherlich auch sehr gut gefallen, dachte Francesco.
Und die stets gegenwärtige Trauer um den frühen Tod seiner geliebten Tochter, lenkte ihn einen kurzen Moment lang ab von seiner Angst, seinem Entsetzen und von seinem Schmerz.
Da beförderte ihn ein brutaler Tritt in die Rippen abrupt zurück in den Albtraum im Hier und Jetzt.
Er drehte stöhnend den Kopf zur Seite und erschrak. Nach dem Anschlag mit der glühenden Zigarette war Antonella ohnmächtig zusammengesunken. Jetzt lag sie so regungslos wie eine Statue neben ihm. Eine Sekunde lang fürchtete er, sie sei tot.
Doch dann zuckte ihre Hand.
Sie ist nur bewusstlos. Der Schmerz und der Schock waren zu viel für sie. Sie kommt bestimmt bald wieder zu sich. Ich könnte es nicht ertragen, sie auch noch zu verlieren, dachte Francesco zärtlich.
„Es hat keinen Zweck, Nuka. Anscheinend weiß er wirklich nicht, wo die verdammte Figur abgeblieben ist.“
„Und wieso glaubst du dem Kerl plötzlich?“
„Er ist nicht der Typ Mann der zusieht wie wir seine Frau quälen, wenn er es verhindern könnte“, erwiderte der Blonde. „Hätte er sie, würde er sie uns geben.“
„Und was jetzt? Was schlägst du vor, Hajo?“, fragte sein dunkelhäutiger Komplize.
„Keine Ahnung, Nuka. Ich weiß nur, dass die Sache völlig aus dem Ruder gelaufen ist. So ein verdammter Mist aber auch“, fluchte der Blonde frustriert.
„Keine Figur, dafür aber nicht nur einen, sondern gleich zwei Zeugen am Hals, die wir unbedingt loswerden müssen. Denn niemand soll von unserer Suche nach der Figur wissen. Und dann glaubten wir auch noch, die Frau sei nicht zu Hause.
Toll ist das gelaufen, wirklich ganz toll!“
„Du hast doch wohl nicht plötzlich irgendwelche Skrupel, oder?“, fragte der Afrikaner abschätzig.
„Ach was!
Aber dieses ganze Theater und dann noch nicht mal zu wissen, wo wir jetzt noch suchen sollen. Mir geht dieses ganze Hin und Her langsam echt auf die Nerven.
Dazu noch die Sorge, die Figur könnte in die falschen Hände geraten.
Würde das wirklich passieren, wären wir und der Chef selbst in diesem vor Humanität überquellenden Staat geliefert, das kann ich dir sagen“, knurrte Hajo frustriert.
„Alles lassen die hier auch nicht durchgehen!“
„Hast ja recht, Hajo. Gegen dieses Theater ist der Auftrag jemanden umzulegen wirklich das reinste Vergnügen“, erwiderte der Afrikaner. Und dann grinste er hämisch und voll Schadenfreude, als er Francescos Entsetzen gewahrte, der fassungslos zugehört hatte.
„Na, was ist? Du hast doch wohl nicht geglaubt, wir würden Zeugen zurücklassen, oder?“, fragte er abfällig.
„Nehmt doch eine andere Figur oder meinetwegen auch alle. So wichtig kann doch die, die ihr sucht, nicht sein“, nuschelte Francesco, der zusehends Schwierigkeiten beim Sprechen hatte.
Der Blonde schüttelte vor so viel Dummheit den Kopf. „Du bist aber wirklich schwer von Begriff“, knurrte er genervt. „Die andern Figuren kannst du dir an den Hut stecken. Wir sind nur hinter der Holzfigur her. Ich dachte, das hättest selbst du mittlerweile begriffen.“
„Aber warum?
Wieso ist ausgerechnet diese Holzfigur für Sie so wichtig? Ich versteh das einfach nicht. Weshalb tun Sie uns das an? Wir kennen Sie nicht, haben Ihnen nichts getan. Lassen Sie uns doch frei. Wir werden schweigen, niemandem von Ihrem Besuch erzählen. Aber verschonen Sie uns bitte“, flehte Francesco, dem bei dem soeben gehörten schlagartig klar geworden war, dass er und Antonella dem Tod näher waren als dem Leben.
Wir sind unliebsame Zeugen, hat dieser skrupellose Sadist namens Hajo gesagt. Unliebsame Zeugen, die sie unbedingt loswerden müssen! Was haben die beiden Kerle mit uns vor?
Uns umzubringen?
Hätte ich doch bloß die Tür nicht geöffnet, haderte Francesco mit sich. Ich hätte auf Antonella hören sollen. Wie oft hat sie mich davor gewarnt, Fremden die Tür zu öffnen. Doch für Reue ist es jetzt zu spät. Wir sind diesen Verbrechern ausgeliefert.
Werden sie uns verschonen?
Nein, das werden sie nicht, denn wir kennen ihre Gesichter.
Mein Tod stand wohl von Anfang fest, andernfalls hätten sie ihr Gesicht wohl unter einer Maske verborgen, dachte er fatalistisch, denn an eine Überlebenschance für sich, glaubte er nicht mehr.
Aber Antonella!
Sie ist nur ein zufälliges Opfer, war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, begriff er entsetzt.
Mein Gott! Ich muss sie retten! Aber wie?
Todesangst ließ ihn erbeben. Sein Herz raste, schlug wie toll gegen seine angeknacksten Rippen, die wohl keine Gelegenheit zur Heilung mehr bekommen würden, denn er war schon so gut wie tot. Seine Gedanken waren ein einziges Chaos aus panischer Furcht und dumpfer Verzweiflung. Seine Hilflosigkeit brachte ihn fast um den Verstand.
Antonellas Stöhnen riss ihn aus seiner Niedergeschlagenheit. Mit aller Macht kämpfte er die Panik nieder, die der Furcht folgen wollte. Er schloss die Augen und zwang sich, nicht mehr an den Tod zu denken.
Allerdings vermochte er die Angstschauer nicht zu unterdrücken, die seinen Körper erbeben ließen. Er zitterte so stark, dass seine Peiniger aufmerksam wurden. Sie stellten sich vor ihn und starrten ihn an.
Als sie erkannten, was in ihrem Opfer vorging, grinsten die beiden Verbrecher gemein.
„So langsam scheint der Schwächling zu begreifen, was Sache ist“, lästerte Nuka. „An und für sich ist er mir gar nicht mal so unsympathisch, wo er doch die Kultur meiner Ahnen anscheinend schätzt, jedenfalls sammelt er sie“ meinte er grinsend. Und an sein Opfer gewandt:
„So, du würdest also gerne wissen, warum wir ein solches Theater um diese Holzfigur machen, richtig?“
Francesco nickte stumm.
„Ganz einfach, weil sie unseren Boss und uns beide in verdammt unangenehme Schwierigkeiten bringen würde, wenn sie in die falschen Hände gerät. Deshalb suchen wir beide so angestrengt danach.“
„Aber wieso? Was für Schwierigkeiten kann eine kleine Holzfigur schon bringen? Ich begreife das einfach nicht“, stieß Francesco hervor, für einen Moment seine Todesangst vergessend.
„Du möchtest wirklich wissen, warum wir die Figur unbedingt finden müssen?“
„Ja, das möchte ich.“
„Was meinst du, Hajo, soll ich es dem Schwächling sagen? Du nickst? Also gut! Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass es ihm gefällt.“
„Da hast du wohl recht. Ich bin sogar davon überzeugt, dass es ihm bestimmt nicht gefallen wird! Wahrscheinlich ginge er lieber unwissend zu seinen Ahnen, wenn er erfährt, um was es hier wirklich geht.
Aber sag’s ihm ruhig.“
Da beugte sich der Mann namens Nuka grinsend zu Francesco hinunter. Sein heißer, nach Knoblauch riechender Atem streifte dessen Gesicht.
„Und jetzt hör mir gut zu“, wisperte er Lorenzo ins Ohr.
UND DANN SAGTE ER ES IHM!
Und das, was Francesco in diesem schrecklichen Augenblick erfuhr, vertrieb jegliche Furcht, seine körperlichen Schmerzen und die Sorge um seine geliebte Frau. Aber es intensivierte seine seelischen Schmerzen zu so gigantischen Dimensionen, das er es nicht ertragen konnte.
Etwas in ihm zerbrach!
Dieses Wissen ertrug er nicht!
Sein Innerstes versteinerte, weckte die Sehnsucht, das Begehren nach dem Tod und der Abkehr von jeglichem, insbesondere diesem grauenhaften, unfassbaren Seelenschmerz.
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