Doch die Sucht in ihm, die Sucht nach dem Vergessen, scheucht die Furcht vor seinen Verfolgern schon bald wieder fort.
„Sie kriegen mich nicht!
Nie im Leben kriegen diese verdammten Penner mich“, flüstert er sich Mut zu.
Doch dabei sieht er sich furchtsam um und beschleunigt seinen Schritt.
Ein halbzerfallenes, leerstehendes Haus in einer Seitenstraße der Reeperbahn in Hamburg, ist das Ziel des Süchtigen. Hier haben sich Wohnungslose, einige Dealer, die selber abhängig sind, und Menschen eingenistet, die nicht mehr allzu viel vom Leben erwarten.
Keuchend schwankt der Junkie auf das abbruchreife Gebäude zu. Schwächlich stößt er mit zitternden Händen die schief in den Angeln hängende Tür einen Spalt weit auf, so dass er ins Haus schlüpfen kann.
Aufatmend steht er in der Dunkelheit eines langen Flurs, von dem, wie er weiß, zahlreiche Wohnungstüren abgehen, denn zu sehen vermag er kaum etwas.
Unstet huscht der Blick seiner blutunterlaufenen Augen hin und her, versucht die Schwärze zu durchdringen, die ihm die Sicht verwehrt.
„Jamie? Jamie, bist du da“, krächzt er hoffnungsvoll in die allumfassende Stille hinein.
Ein leises Scharren.
„Jamie, ich bin‘s, Julian. Ich brauch was. Ich hab Kohle dabei.“
Das Wort „Kohle“ mobilisiert, weckt die Gier des sich im Dunkeln verbergenden Dealers und veranlasst ihn, aus den Schatten hervorzutreten.
Julian atmet erleichtert auf.
Sein Dealer ist da. Alles wird gut!
Wie hypnotisiert starrt er auf die Hand der ausgemergelten Gestalt vor sich, fast ein Ebenbild seiner selbst.
Die Tüte!
Die Plastiktüte in der Hand des Dealers ist es, die seinen Blick bannt.
Da drin warten sie, die kleinen, rosafarbenen Glücksbringer, die sein Leben für eine Weile erträglich, ja glücklich machen. Die ihm schenken, wonach er sich in immer kürzeren Zeitabständen verzehrt.
Sein gesamtes Denken, Fühlen und Wollen ist nur noch darauf ausgerichtet. Allein der Gedanke daran lässt seinen schwächlichen Körper erbeben, verleiht seinen wässrigen Augen neuerlichen Glanz, strafft für einen Moment seine zusammengesunkene Gestalt.
Crystal Meth!
Seufzend vor Erleichterung entweicht Julians Atem seiner schmalen Brust.
Thai Pillen!
Schon bald werden sie ihm Vergessen bescheren, ihn schwimmen lassen, in einem See unbeschreiblichen Glücks.
„Für wie viele Pillen reicht deine Kohle?“
Des Dealers gleichgültige, kalte Stimme vertreibt abrupt Julians euphorische Gedanken.
Zitternd trennt er sich von seinem letzten Geld.
Jamie sieht kurz taxierend darauf, dann steckt er die Scheine kommentarlos ein. Er füllt einige der rosafarbenen Tabletten in eine kleine Plastiktüte und gibt sie wortlos seinem Kunden.
Es ist für ihn ein Geschäft. Nur ein Geschäft.
„Stopp! Nicht hier“, bricht er dann aber doch sein Schweigen, als Julian eine Pille aus der kleinen Tüte in seine Hand schüttet.
„Wieso nicht? Die Wirkung tritt doch erst später ein“, wundert sich Julian.
„Such dir einen anderen Platz für deinen Trip. Ich will hier in meiner Gegend keinen Ärger haben.
Sieh zu, dass du Land gewinnst“, blafft ihn der Dealer an und droht ihm unmissverständlich mit der geballten Faust.
„Schon gut, Alter“, kuscht Julian vor der Gewaltandrohung.
Er lässt die Thai Pille zurück in die Tüte fallen und macht sich hastig davon. Er hat es eilig. Die Gier treibt ihn an, beherrscht jeden seiner Gedanken.
Vielleicht sollte ich mich aufs Rauchen oder Spritzen verlegen. Da tritt die Wirkung innerhalb weniger Sekunden ein. Nicht erst nach etwa ‘ner halben Stunde wie bei den Pillen. Hält zwar länger an, aber selbst beim Sniefen muss man nicht so lange auf die Wirkung warten, überlegt Julian.
Doch gleich darauf versickern seine Gedanken wie immer im Nichts.
Die kleine Tüte fest an sich gepresst, eilt er getragen von seinem unbändigen Verlangen in die Richtung zurück, aus der er gekommen ist. Er kennt einen verschwiegenen Platz, wo er sich seinem vermeintlichen Glück ungestört hingeben kann.
Stolpernd biegt er in die enge Gasse ein, an deren Ende der Zufluchtsort wartet.
Mehr wankend als gehend, den Blick stur geradeaus gerichtet, torkelt er seinem Ziel entgegen, welches sich jedoch mit jedem Schritt weiter von ihm zu entfernen scheint.
„Mein Gott, ich halt das nicht mehr aus“, wimmert er.
„Aber das wirst du wohl müssen, Junkie“, zischt eine Stimme gehässig.
Bevor Julian überhaupt begreift, was plötzlich los ist, lösen sich aus dem Schatten zwei Gestalten und versperren ihm den Weg. Eine harte Hand zerrt den zitternden Süchtigen zu sich heran.
„Wo hast du die Figur gelassen, du mieses Stück Dreck?“, zischt einer der beiden, ein großer, muskulöser Mann. Aus seinem harten, wie aus Granit gemeißelten Gesicht starren gletscherblaue, eiskalte Augen Julian abfällig an.
Er kocht vor Wut!
Am liebsten möchte er diesen achtzehnjährigen Bengel, der ihnen so viel Mühe bereitet hat, und den er nie leiden konnte, auf der Stelle seine harten Fäuste spüren lassen.
Aber noch muss er sich zurückhalten.
Er streicht sich über seine langen blonden Haare, die eine silberne Spange im Nacken zusammenhält. Er muss sich beruhigen. Die Zeit ist noch nicht reif für seine mörderischen Gelüste.
„Hast du deine Zunge verschluckt?“, faucht der Blonde ungeduldig. Er greift fester zu und schüttelt Julian wie einen Lumpenfetzen grob hin und her.
Der kapiert nichts, vermag sich überhaupt nicht auf die neue Situation einzustellen.
Er braucht so dringend die Droge, alles andere interessiert ihn nicht. Kraftlos versucht er sich von dem harten Griff des Blonden zu befreien.
„Lass mich los“, keucht er.
Da entreißt der zweite Mann Julian die Tüte mit dem Crystal. Grinsend steckt sie der Farbige, schwarze Haut, krauses Haar, flache, breite Nase, wulstige, dick aufgeworfene Lippen, eckiges Gesicht, in seine Jackentasche.
„Nein! O mein Gott, nein!“, wimmert Julian verzweifelt.
„Ich brauche es! Bitte, bitte gib es mir zurück!“
„Vielleicht bekommst du das Zeug zurück, Julian, vielleicht auch nicht“, erwidert der Schwarze grinsend. „Das liegt ganz bei dir, denn es hängt alleine von deinen Antworten ab, ob du schon bald glücklich sein wirst oder in pure Verzweiflung stürzt. Ich hab deine Glückspillen, also verdien sie dir gefälligst.“
„Das will ich ja. Ich brauch die Pillen. Was soll ich denn tun?“, winselt Julian verzweifelt.
„Du sollst gar nichts tun, Kleiner. Du weißt doch, was wir von dir wollen!
Also zum allerletzten Mal:
WO IST DIE FIGUR?“
Leugnen hilft nicht, denn die beiden Kerle wissen, dass ich es war, der die Holzfigur gestohlen hat. Wenn ich meine Pillen wiederhaben will, sage ich ihnen lieber sofort, wo sie ist, überlegt Julian zitternd.
Aber er hat zu lange überlegt!
Ein kräftiger Fausthieb des Schwarzen, der nicht gerade einer der Geduldigsten ist, reißt Julian von den Füßen. Keuchend stürzt er zu Boden. Schmerzhaft schlägt er auf dem harten Knüppelpflaster auf.
„Also, Junkie, wem hast du die Figur verkauft? Sag es sofort oder ich zerlege dich hier und jetzt in deine Einzelteile.
Hast du das endlich kapiert?“
Julian will es ihnen ja sagen, doch er zittert am ganzen Körper, fürchtet sich vor noch mehr Schlägen, wankt hin und her vor panischer Angst und bringt kein Wort über seine trockenen Lippen. Dazu kommen die überfallartigen Krämpfe die zeitweise sein Innerstes nach außen kehren.
Entzugserscheinungen sind es die ihn quälen.
Die Furcht, dazu der ungewollte Drogenentzug, das alles ist für ihn zu viel, reduziert ihn auf ein fast schon gänzlich zerstörtes, menschliches Wrack.
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