Und doch, welchen Einfluss sollte ausgerechnet eine harmlose kleine Holzfigur auf die Geschicke der Menschen haben?
Es sei denn, man glaubt an Voodoo und solche Geschichten oder daran, dass sich manchmal dunkle Gefühle auf eine kleine Holzfigur übertragen lassen.
Kriminalhauptkommissar Heckert glaubt nicht an solche Dinge. Er hat Mordfälle aufzuklären, muss die Täter zur Strecke zu bringen. Und diese Kriminellen sind Menschen und keine dubiosen Skulpturen.
Allerdings ist nicht auszuschließen, dass an sich harmlose Gegenstände für Verbrechen missbraucht werden.
Wer weiß, vielleicht ist ja genau das der kleinen, afrikanischen Holzfigur widerfahren.
Abgerissen und hager schwankt die trostlose, traurige Gestalt die kaum beleuchtete, menschenleere Straße entlang.
Wimmernde, kaum noch verständliche, menschliche Laute, hervorgestoßen zwischen aufgeplatzten Lippen, begleiten den Crystal-Süchtigen auf seinem Weg zum vermeintlichen Glück. Ausgelaugt wie ein alter Schwamm braucht er die Droge, giert, fiebert danach.
Seine schweißnasse Hand umklammert das dünne Bündel Geldscheine in der Tasche seiner zerschlissenen, dunkelblauen Jacke. Schon sehr bald gehören seine Leiden, seine Schmerzen, für wenige Stunden der Vergangenheit an, hofft er verzweifelt.
Doch was kommt danach?
Die wenigen Scheine, der Rest der Geldsumme, die er für den Verkauf der kleinen afrikanischen Figur bekommen hat, sind sein letztes Geld, um sich die für ihn lebenswichtigen Thai Pillen zu kaufen.
Und dann?
Ein neuer Diebstahl, um an Geld für die ihn zerstörende Droge zu kommen?
Doch bietet sich ihm nicht häufig die Möglichkeit etwas Wertvolles, dessen Verkauf seinen Drogenkonsum für längere Zeit sichert, unbemerkt zu entwenden.
Und dazu diese schreckliche Angst vor seinen Häschern!
Sie haben nicht lange gebraucht um herauszufinden, dass er die kleine Holzfigur gestohlen hat.
Wer auch sonst?
Fremde haben keinen Zutritt zu diesem Haus.
Nur er hatte die Gelegenheit dazu, war der am wenigsten Zuverlässige, wurde nur geduldet, jedoch nicht gemocht.
Als sich ihm die Gelegenheit dann bot, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, das Haus nach Dingen zu durchsuchen, die er zu Geld machen konnte. Und er hatte sich wahrlich nicht ungeschickt dabei angestellt.
Und wie ein Film rollte der Ablauf des Geschehens noch einmal vor ihm ab:
Wie ein Schatten streicht er unbemerkt durchs Haus auf der Suche nach Wertsachen, nach Geld, Schmuck oder anderen handlichen, gut zu verkaufenden Gegenständen. Er braucht dringend Geld, um sein Verlangen zu stillen, seinen Crystal-Konsum zumindest für einige Tage zu sichern.
Er ist nicht alleine im Haus, bemerkt er zu seinem Schreck. Er weiß es, weil er Stimmen, Lachen und auch Schreie vernimmt, die seine Arme mit einer Gänsehaut überziehen.
Das geht mich nichts an, denkt er wie stets alles Unangenehme von sich schiebend. Bestimmt verlassen diese Leute irgendwann das Haus, dann kann ich meine Suche in Ruhe fortsetzen.
Als er jemanden kommen hört, versteckt er sich hastig in einem kleinen Nebenraum nahe der Treppe, in dem einige Möbelstücke untergebracht sind, die zurzeit nicht benötigt werden. Ein bequemer Ohrensessel ist zu seiner Freude auch dabei, so dass er es schön bequem hat.
Er muss eingeschlafen sein, denn nicht weit entfernt von seinem Versteck fällt etwas zu Boden, ein Geräusch, das ihn weckt.
„ Pass doch auf, du Trottel. Du hast Glück, dass niemand da ist“, knurrt jemand gereizt. Die Stimmen verlieren sich.
Eine Tür wird zugeschlagen.
Das ist die Gelegenheit!
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, wagt er sich aus seinem Versteck. Eilig verlässt er die Kammer und macht sich auf die Suche. Irgendetwas Wertvolles muss sich in dieser Hütte doch finden lassen, denkt er gierig.
Und dann stößt er nach vergeblichem Suchen in einem der Räume auf die kleine Figur, die schräg gegenüber einer üppig gepolsterten Wohnlandschaft auf einem massiven Sockel steht.
Da er nichts Kostbareres gefunden hat, nimmt er in Ermangelung dessen die Holzfigur mit, deren Wert er, falls sie denn überhaupt einen besitzt, nicht abzuschätzen vermag. Aber ein paar kleinere Scheine wird sie mir schon bringen, hofft er
Er steckt sie in seinen Rucksack und verschwindet ungesehen aus dem Haus.
Er versucht die Figur in Berlin zu verkaufen, doch niemand interessiert sich dafür. Er will sie schon wegwerfen, überlegt es sich jedoch anders und nimmt sie mit nach Hamburg als er mit seiner Mutter dahin übersiedelt.
Hier kauft sie ihm Ben Kremser, der früher in Berlin einen Laden hatte, aus Gefälligkeit ab, wie er sagt.
Jetzt ist er ein angesehener Mann auf dem Hamburger Kiez und gut im Geschäft.
Wenige Zeit später kommt ihm dann zu Ohren, dass zwei Männer auf der Suche nach ihm sind. An der Beschreibung erkennt er sie. So ein Mist, denkt er und taucht unter.
Doch seine Verfolger kommen ihm immer näher.
Sie sind ihm auf der Spur!
Und wehe, sie schnappen ihn!
Seit mehreren Wochen versteckt er sich nun schon vor ihnen. Wagt sich nicht mehr nach Hause. Nächtigt überall, wo sich ihm eine Möglichkeit bietet.
Er besuche einen Freund in Köln, hat er seiner gutgläubigen Mutter bei seinem letzten Besuch erzählt. Sie hat ihn umarmt und ihm eine schöne Zeit in Köln gewünscht.
Eine schöne Zeit, von wegen!
Kein Dach über dem Kopf!
Nur dann etwas zu essen, wenn ich etwas finde, das andere weggeworfen haben.
Und dazu diese Angst! Diese fürchterliche Angst!
Schließlich kennt er seine Verfolger und deren Skrupellosigkeit, obwohl diese natürlich nichts davon ahnen. Er hat sie eine Zeit lang aus reiner Neugier heimlich beobachtet, wollte wissen, wohin sie abends gehen und wieso sie stets so gut bei Kasse sind.
Und es blieb ihm nicht verborgen wie gut sie sich in dem kriminellen Milieu Berlins auskannten.
Sie arbeiteten für einen Mann, den sie nur Chef nannten. Und sie machten alles, wenn sie nur gut genug dafür bezahlt wurden. Sie waren sich für nichts zu schade, hatten keinerlei Skrupel anderen zu schaden, sie ins Unglück, ja, sogar in den Tod zu stürzen.
Sie schlugen Huren, wenn diese nicht so wollten wie sie. Prügelten beim Geldeintreiben Schuldner, die nicht zahlen konnten oder wollten krankenhausreif.
Dealten mit Drogen.
Nahmen sich in bestimmten Gegenden was ihnen gefiel ohne zu bezahlen. Überfielen Personen die sie zuvor beim Geldabholen beobachtet hatten und raubten sie aus.
Kurzum sie scheuten vor nichts zurück, kannten weder Mitgefühl noch Gnade, lebten und interessierten sich nur für ihre eigene Befindlichkeiten.
Als ihm das bewusst wurde, hatte er schlagartig mit dem Bespitzeln aufgehört und sich zurückgezogen.
Denn hätten die beiden Männer ihn dabei erwischt, wäre er nicht mehr am Leben, davon war er felsenfest überzeugt.
Und ausgerechnet diese Halunken waren ihm jetzt auf den Fersen!
„Und das alles wegen dieser kleinen, mickrigen Holzfigur. Allerdings muss sie dann wohl doch ziemlich wertvoll sein, wenn diese Gangster so wild darauf sind. Also hat mich Ben Kremser, dem ich die Figur verkaufte, übers Ohr gehauen. Das ist ja wohl klar!“, flüsterte er verzagt.
Er steckte tief in der Bredouille, so tief wie noch nie zuvor, darüber machte er sich keine Illusionen.
Ihm blieb nur die Flucht.
Doch wie lange noch, bis sie ihn fanden?
Und plötzlich schlägt die Furcht wie eine Woge über ihm zusammen.
„Ich bin tot!
In Wirklichkeit, bin ich jetzt schon tot“, murmelt der, seiner panischen Angst hilflos ausgelieferte Junkie stereotyp, sich wie eine defekte Schallplatte unaufhörlich wiederholend.
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