Dort siedelte sich nach einigen Monaten ein Kunsthändler an. Was er mit seiner Kunst dort wollte, wo sich nicht mal ein Friseurgeschäft halten konnte, war wohl sein Geheimnis.
Auf jeden Fall stellte er eines Tages in seinem Schaufenster einen großen, dicken Ast aus, der mit silbernem Lack überzogen war. In ihm steckten zahlreiche, hineingeschlagene Nägel in wirrer Anordnung. Den Preis für dieses „Kunstwerk“ erinnere ich nicht mehr.
Mein Brüderchen, damals ungefähr 10 Jahre alt, fühlte sich wohl durch dieses Kunstwerk inspiriert und bastelte ein eigenes. Ebenfalls mit silbernem Lack besprüht und mit Nägeln malträtiert. Damit setzte er sich mit seinem Kunstwerk unter die herrlichen Riesenpappeln unserer Allee an einen Tisch, den er genau dem Kunstladen gegenüber aufstellte.
Der Kunsthändler kam herausgestürmt und wetterte und beschimpfte ihn. Sein Gegenstand sei Kunst und Micha solle gefälligst verschwinden.
Der ging nach Hause, erzählte alles unserem Vater und zusammen gingen sie dann am nächsten Tag zum Kunsthändler.
Was dort vorgefallen ist, weiß ich nicht. Jedenfalls hat der Kunsthändler ein paar Tage später seinen Kram gepackt und ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Motorradfahren strengstens verboten
Mein Vater hatte in der Nachkriegszeit ein Motorrad von BMW mit Beiwagen gefahren. Darin fuhr er später gerne meine Mutter spazieren. Die Gefahren des Motorradfahrens waren ihm allerdings ebenfalls bestens bekannt.
Mein erster Freund, der sowieso für meinen Vater völlig unsichtbar sein musste, besaß ein Moped. Er war 18 – mein Freund, nicht das Moped – und ich 17, gerade aus der Schule raus und ins Berufsleben eingestiegen.
Er besuchte mich oft in seiner Mittagspause auf meiner Arbeitsstelle in Köln und wir aßen dann eine Kleinigkeit zusammen an einer Frittenbude. Abends kam er auch zu unserem Haus, was selbstverständlich strengstens verboten war. Niemand bemerkte aber etwas davon, weil er prima den Schrei eines Käuzchens nachahmen konnte und mein Schlafzimmer zur Straße hin lag. So saß ich also Nacht für Nacht in meinem geöffneten Schlafzimmerfenster, während meine Eltern im Parterre auf der gegenüberliegenden Seite vor dem Fernseher saßen.
Einmal geschah es aber, dass mich mein Vater sonntagsmittags mit meinem Freund an der Ecke zu unserer Straße sah. Dass es nur ein Bekannter sei, konnte ich ihm erklären, denn er kannte meinen Freund ja nicht. Aber er sah mir eindringlich in die Augen und befahl mir: Steig mir bloß nicht auf das Ding.
Er ging wieder in Richtung Haus. Wir warteten noch eine kurze Zeit, dann stieg ich auf und wir fuhren los. Plötzlich sagte mein Freund: „Dein Vater steht an der Ecke.“ Er hatte ihn im Rückspiegel entdeckt.
Oje, dachte ich, das gibt Stücke.
Später erfuhr ich von meiner Mutter, dass sie „Blut und Wasser“ geschwitzt hätte, weil mein Vater wütend und aufgebracht durchs Haus gelaufen und gebrüllt hätte: „Da steigt die doch einfach auf das Ding. Wenn die nach Hause kommt, dann kann die was erleben.“ Er konnte sich nicht beruhigen.
Meine Mutter dachte schon an Mord (kleiner Scherz), aber sie hatte furchtbare Angst um mich und fürchtete sich vor dem Moment, wo ich wieder nach Hause kommen würde.
Ich klingelte an der Tür und allen Gewohnheiten zum Trotz öffnete mein Vater. Er stemmte beide Arme in die Seiten und sah mich mit puterrotem Kopf an.
Ich sagte nur leise: „Papa“. Und schon lagen wir uns in den Armen und ich weinte. Alles war wieder gut. Meine Mutter war noch sehr lange böse mit mir, weil ich ihr solche Sorgen bereitet hatte.
Wir wollten helfen – meine Schwester und ich. Aber nicht zu Hause, wo meine Eltern das sehr gerne gesehen hätten, sondern bei fremden Leuten. Also haben wir uns eines Tages mit Besen, Rechen und einigen anderen Sachen „bewaffnet“ und sind in der etwas entfernteren Nachbarschaft von Tür zu Tür gegangen. Wir waren ungefähr 10 Jahre alt. Unser Brüderchen durfte nicht mit – er war erst 5.
An der sich öffnenden Türe stellten wir uns vor und sagten: „Wir sind von der Aktion Kummerkasten.“ Inspiriert wurden wir von der gleichnamigen Fernsehserie, die damals lief.
Einige Leute haben uns tatsächlich eingelassen und uns z.B. im Garten arbeiten oder die Einfahrt kehren lassen. Manchmal durften wir auch für sie einkaufen gehen. Dafür haben wir nichts verlangt, bekamen aber manchmal ein paar Groschen oder auch mal Bonbons oder Schokolade und vor allem immer ein herzliches DANKESCHÖN. Und das war uns Lohn genug.
Als wir aber dann schon die nähere Nachbarschaft „abgegrast“ hatten, erkundigten wir uns bei der Gemeindeschwester. Und die bat uns zu einer alten Dame, die in der 2. Etage eines Hauses in einer Seitenstraße wohnte. Sie war früher Sängerin an einer Oper gewesen, 86 Jahre alt und mit einem Hüftschaden. Sie besaß einen Kohleofen und heizte noch mit Briketts.
Ab dieser Zeit gingen wir zweimal wöchentlich zu ihr und holten ihr zwei Eimer Briketts aus dem Keller. Bei unserem ersten Besuch schenkte sie uns eine Tafel Schokolade. Aber als sie später von der Gemeindeschwester erfuhr, dass wir nicht „abkommandiert“ worden waren, sondern uns freiwillig bemüht hatten, hatte sie uns richtig ins Herz geschlossen.
Wir haben sie auch zu Weihnachten und Ostern separat besucht und ihr zugehört, wenn sie von früher erzählte. Sie war glücklich mit uns – und wir mit ihr.
Obdachloser im Krankenhaus
Wie schon so oft in dieser damaligen Zeit, lag ich mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus, und zwar schon wieder einmal kurz vor Weihnachten. Meine Mutter hat diese Zeit immer gefürchtet, weil oftmals gerade dann die Krankheiten in unserer Familie um sich griffen.
Ich war erwachsen, hatte schon einen Sohn, was die Möglichkeiten der „Katastrophen“ noch erhöhte. Mama wohnte in unserem Haus in ihrer eigenen Wohnung, war aber immer in die Familie eingebunden.
Ich lag also im Krankenhaus und als ich öfter einen Mann in einem Bademantel, der ihm viel zu klein war, über den Gang „schleichen“ sah, fragte ich die Krankenschwester nach ihm. Sie erzählte mir, dass ihn jemand auf der Straße liegend entdeckt und ihm einen Krankenwagen gerufen hätte. Er sei obdachlos und sie hätten ihn zunächst einmal in die Badewanne gesteckt und ordentlich geschrubbt und ihm dann später einen Bademantel, den jemand in der Klinik vergessen hatte, gegeben. Er sei völlig ausgehungert gewesen und sie hätten ihm erst einmal etwas zu essen und zu trinken gegeben. Er sei wohl aus Schwäche zusammengebrochen gewesen.
Wieder allein in meinem Bett gingen meine Gedanken zu diesem Mann, der allein ist und in der eisigen Kälte nicht einmal genug zu essen hat. Ich rief meine Mutter an und erzählte ihr von ihm. Wir waren beide sehr ergriffen von diesem Schicksal und wir beschlossen, ihm eine Freude zu Weihnachten zu machen.
Wir verabredeten, ihm etwas Geld zu schenken, aber wir wollten nicht, dass er sich damit womöglich schlecht fühlen würde und so überlegten wir, es ihm einem Couvert überreichen zu lassen von den Schwestern mit der Auflage, ihm nicht zu sagen, von wem es käme.
Wir schrieben auf das Couverts einen lieben Weihnachtsgruß und übergaben das Couvert mit 200 DM der Schwester.
Sie erzählte uns später, dass diesem Mann die Tränen über sein Gesicht gelaufen wären, als er unser Couverts öffnete. Diesem armen Menschen eine Freude bereitet zu haben, war für uns beide das größte Weihnachtsgeschenk.
Weil mein Jüngster am 30. April konfirmiert werden sollte und ihm noch etliche, sonntägliche Kirchgänge fehlten, beschlossen wir gemeinsam, jede bis zu diesem Zeitpunkt noch mögliche, wahrzunehmende Sonntagspredigt zu besuchen, was immerhin noch vier Monate war.
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