Also zeigt er ihr den Vogel. Sie kriegt einen Schreikrampf, reißt ihm das tote Tier aus der Hand und schmeißt es zum Fenster hinaus.
Dann lässt sie eine ihrer endlosen Litaneien los. Was für ein undankbarer und fürchterlicher Fratz er doch wäre. Sie tue alles für ihn und er mache nur alles kaputt und dreckig. Er hört nicht hin. Er hat das schon zu oft über sich ergehen lassen müssen. Er ist nur froh, wenn sie endlich damit aufhört.
Der Papa hingegen sagt zu ihm meist gar nichts. Er beutelt ihn nur bei jeder Gelegenheit so fest an den Ohren, dass er Kopfweh kriegt. Und er kriegt oft Kopfweh. Wenn ihm der Kopf zu stark wehtut, pinkelt er sich an. Immer! Er kann es nicht zurückhalten.
Dann nennen sie ihn Dreckferkel und er muss mit der nassen Hose zur Strafe in eine Kiste. Da muss er bleiben, bis seine Sachen wieder trocken geworden sind.
Die Kiste steht im Keller und Papa sperrt sie ab, wenn er drinnen hocken muss.
Dort ist es immer finster. Ratten und Mäuse huschen herum. Er hört sie und fürchtet sich. Er stellt sich vor, das wären verkleidete Monster. Grausige, zähnefletschende Monster, die ihn beißen oder gar fressen möchten!
Manches Mal hat er so viel Angst, dass er auch in die Hose kackt. Er will das nicht, aber kann es einfach nicht zurückhalten. Dann riecht es in der Kiste noch unangenehmer als sonst.
Wenn Papa ihn dann nach Stunden befreit und seine Bescherung riecht, dann geht es ihm noch mehr an den Kragen.
Er muss sich nackt ausziehen, sich waschen und dann auf die Straße stellen. Sie hängen ihm noch dazu ein Schild um den Hals „Ich bin ein Hosenscheißer.“
Er muss so immer mindestens eine ganze Stunde auf der Straße stehen und schämt sich entsetzlich. Die Nachbarn sehen ihn, die Kinder aus der Nachbarschaft und auch noch andere Leute.
Man lacht ihn aus und verspottet ihn. Das tut weh. Sehr weh sogar. Er hat keine Freunde oder Spielkameraden. Mit einem so übel riechenden Hosenscheißer will halt niemand was zu tun haben.
Wenn er dann wieder in die Wohnung darf, kriegt er noch Kopfnüsse von Papa. Der sagt dann immer „leichte Schläge auf den Hinterkopf heben das Denkvermögen.“
Wenn es nur leichte Schläge wären. Nein! Sind sie nicht. Und das Kopfweh kommt wieder. Immer wieder!
Die Eltern melden ihn später an der Universität an. Er soll studieren. Er wäre gerne Tierarzt geworden. Er liebt Tiere.
Doch der Papa sagt nein. Er solle gefälligst Jus nehmen und sich dann bemühen, in den Staatsdienst aufgenommen zu werden. Dort gäbe es schon so viele Idioten, da würde er nicht auffallen.
Also studiert er Jus. Mit sehr wenig Begeisterung. Auch einige Beziehungen knüpft er während des Studiums an. Keine davon hält und in keiner kommt es zu einer engeren Verbindung.
Die Mutter ist dauernd hinter ihm nach und erzählt seinen Freundinnen, was er doch für ein komischer Kauz wäre. Auch seine Hosenscheißerei erwähnt sie, boshaft grinsend, manches Mal dabei. Klar, dass sich dann niemand mehr mit ihm ein zweites Mal verabreden will.
Dann kommt die Revolution. Begeistert schließt er sich ihr an. Insbesondere weil er hofft, die alten und überholten Strukturen - damit meint er hauptsächlich seine Eltern - hinweg fegen zu können. Es gelingt ihnen auch. Das Volk ist mehrheitlich an ihrer Seite.
Es tut ihm auch kein Bisschen weh, das seine Eltern unter den Ersten sind, die man nach dem Umsturz in eines der neu erbauten Umerziehungscamps steckt. Er weiß nicht, ob sie noch am Leben sind und wenn ja, wie sie dort vegetieren. Kein einziges Mal noch hat er sich danach erkundigt. Es interessiert ihn einfach nicht.
Über den ihm zugeteilten Job im Ministerium für Staatssicherheit ist er glücklich und bringt bei der Planung eines neuen Gefängnisses für Staatsfeinde gerne auch seine negativen Erfahrungen aus der Kindheit mit ein. Begeistert werden sie angenommen.
Er nimmt sich vor, alles zu tun, was in seiner Macht liegt, um zukünftig gegen Staatsfeinde - wirkliche und vermeintliche - vorzugehen. Er ist ein wichtiger Bestandteil des neuen Systems geworden.
So etwas wie Mitgefühl kennt er nicht.
Hat er nie kennengelernt.
●●●
Sie fanden sie auf der Straße. Versteckt hinter einem Mauervorsprung. Sie lag da, als wäre sie tot. Sehr tot sogar.
Sie schien ein noch junges Mädchen zu sein. Man konnte ihr Alter in ihrem Zustand nicht erkennen. Ein zerrissener Ausweis lag neben ihr. Er wies sie als eine neunzehnjährige Franziska S… (Der Rest war unleserlich) aus. Das Bild am Ausweis ließ keinen Vergleich mit ihrem jetzigen Gesicht zu.
Ihr ganzes Gesicht war voller Blut. Ein Auge war geschlossen. Vermutlich durch einen harten Faustschlag.
Ihre Bluse war offen, die Knöpfe abgerissen und ihre blanken Brüste blitzten hervor. Man konnte deutliche und intensive Bissspuren daran erkennen. Als ob sie von einem wilden Tier angefallen worden wäre.
Der Unterkörper war nackt. Sie lag da mit gespreizten Beinen und blutete aus der Vagina und dem Anus.
Daneben lagen ein paar Glassplitter. Offensichtlich hatte man damit an beiden unteren Körperöffnungen herum geschnipselt.
„Schrecklich!“ äußerte sich der herbeigerufene Arzt. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Welches Schwein hat dieses junge Ding wohl so zugerichtet?“
Sie brachte sie in die nächstgelegene Klinik. Dort wurde sie mit Müh und Not wieder zusammengeflickt. Über den, der ihr das antat, konnte sie keine Angaben machen. Es ging alles so schnell, es war finster und sie wurde gleich ohnmächtig.
Das Schwein wurde nie gefunden und das Leben ging weiter.
●●●
Es war halb Vier Uhr morgens, als es an ihrer Türe klopfte. Es war kein zögerliches oder schüchternes Klopfen, als ob einer der unbekannten Nachbarn etwas wollte. Auch wenn das um diese Zeit sonderbar gewesen wäre.
Nein!
Es klopfte energisch und arrogant. So als ob man dafür die zusammengeballte Faust verwendete. Und es wurde immer lauter.
Verwirrt wachte sie auf. Wer konnte das sein? Hoffentlich war ihrer Mutter nichts passiert? Das war ihr erster Gedanke. Und vor der Tür stand nun irgend so ein Hiobsbote. Gähnend warf sie sich den Morgenmantel über und schlurfte, Unheil ahnend, die wenigen Meter bis hin zur Tür.
Die Wohnung war in einem dieser neu erbauten Silohäuser - wenig Platz für viele Menschen - und bestand aus einem etwa 40 Quadratmeter großen Einzelraum mit eingebauter Kochnische und Nasszelle. Ein Fenster gab es auch noch, nebst einer zentral gesteuerten Heizung.
Das fordernde Klopfen hörte nicht auf. Es war wahrscheinlich doch nur einer der gleichfalls im Silo Wohnenden, hoffte sie. Ein Fremder hätte ja, ohne die Gegensprechanlage zu benützen, gar keinen Einlass gefunden. Sie fuhr sich noch kurz durch die Haare, öffnete dann die Tür und erschrak!
Vor ihr standen zwei Frauen und ein Mann. In der Uniform der Staatsschutzeinheit. Sie hatten ihre Revolver umgeschnallt und machten nicht den Eindruck, als hätten sie wegen eines allzu frühen Morgenkaffees an ihre Tür geklopft. Die eine Frau stellte sofort ihr Bein zwischen den Türspalt.
„Ja, bitte. Was wollen Sie?“, kam ihre Frage.
„Frau Kapp, Rita Kapp?“, fragte der Mann.
„Ja. Was wollen Sie von mir?“
„Wir müssen Sie mitnehmen!
„Mich? Warum denn?“
Wir haben unsere Gründe dafür! Beeilen Sie sich.“
„Welche Gründe? Von wem? Warum?“ war ihre Reaktion.
„Das wird man Ihnen alles erklären. Später. Kommen Sie jetzt freiwillig oder brauchen Sie Hilfe?“
Rita kapierte die versteckte Drohung. Widerstand gegen die Staatsschützer wäre sinnlos gewesen. Gegen diese geballte Macht hatte man keine Chance.
Es ist eine altbewährte Strategie aller Sicherheitskräfte, weltweit, die Abzuholenden früh am Morgen aufzusuchen. Im Halbschlaf befindlich und noch zu keinen klaren Gedanken fähig, gibt es um diese Uhrzeit die wenigsten Widerstände. Die gerade geweckten Menschen sind in erster Linie verwirrt, hilflos und erschrocken.
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