Wenn sie die Anhöhe hinuntergelaufen war, dort unten floß die Saale. Piccola war noch so unerfahren, wie leicht konnte ihr etwas zustoßen.
Schluchzend machte sich Suse auf den Weg in ihr neues Haus. Tinchen blieb ganz selbstverständlich an ihrer Seite. Das war ein schlechter Anfang.
2. Kapitel
Das Sternenhaus
Das Sternenhaus war vor kurzem fertig geworden. Es war noch im Bau gewesen, als Professor Winter zum Juli nach Jena als Direktor des Planetariums berufen wurde. Er hatte es gekauft und nach seinen Angaben fertigbauen lassen. Ein allerliebstes Häuschen war es. Nur die Untermauerung war aus Stein. Sonst war es ganz und gar aus braunem Holz. Wie aus Schokolade sah es aus. Über seinem Gesims waren in blauem Felde die bekannten Sternenbilder gemalt. Man merkte gleich, daß man zu einem Professor der Sternenkunde kam.
Suse sah nichts davon in ihrem Schmerz. Nicht einmal die nach ihr ausschauende Mutter bemerkte sie. Ihre Gedanken waren bei der armen Piccola, die jetzt in der Fremde irreging. Dabei hatte sie sich doch so auf das neue Haus und vor allem auf ihre Mutti gefreut.
Der Garten, der das Haus umgab, stieg bergig an. Er hatte ein lustig blaues Holzgitter und einige Bäume und Sträucher. Sonst lag er noch ziemlich brach und ungepflegt. Kein Rasen, keine Blumen. Er war neu angelegt und unterschied sich kaum von den Berghängen. Suse, die sonst ein offenes Auge für landschaftliche Eindrücke hatte, gewahrte auch das nicht mal.
Plötzlich hemmte sie den Schritt. Hatte es da nicht irgendwo gemauzt? Noch einmal, ganz leise, ganz zart »mi – au« –. Wie eine Mutter die Stimme ihres Kindes erkennt, erkannte Suse ihre Piccola.
Da – da oben thronte das Kätzchen auf einem jungen Apfelbäumchen. Und wer saß unten? Bubi, der schwarze Bubi. Auf seinen Hinterpfoten hockte der Köter und machte schön zu dem Kätzchen hinauf, als wolle er sagen: »Komm nur ruhig herunter, ich tue dir nichts.« Piccola aber schien dem Frieden nicht zu trauen. Der Anblick war so komisch, daß Suse mitten im Weinen in helles Lachen ausbrach.
»Piccola« – rief sie, breitete ihren blauen Faltenrock aus und drin war die Mies, während Bubi sie fröhlich bellend umsprang.
»Was hat denn deine Katze für einen komischen Namen, hä?« fragte Tinchen Schiller verwundert. »Meine heißt bloß Mies.«
»Piccola ist auch Italienerin,« entgegnete Suse stolz wie eine Mutter. »Piccola heißt die Kleine auf deutsch. Wir hatten nämlich in Neapel auch eine große.«
»Will denn mein Suschen gar nichts mehr von ihrer Mutter wissen?« klang es vom Balkon herab.
»Ja, natürlich, Muttichen. Nur meine Piccola war ausgekniffen, und ich konnte doch das kleine Ding unmöglich in der Fremde allein lassen.« Bald hingen Suse nebst Piccola auch schon der Mutter am Hals.
»Willkommen, mein Herzchen, in unserer neuen Heimat. Mögt ihr euch darin zu tüchtigen Menschen entwickeln, auf die unser deutsches Land stolz sein kann.«
»Aber, wenn Vater wieder ins Ausland versetzt wird?« fiel Herbert ein, der immer ein Aber haben mußte. »Du, Suse, wer ist denn das fremde Mädel?« Er umkreiste Suses kleine Gefährtin mißtrauisch wie Bubi.
»Das ist Tinchen Schiller, meine neue Freundin – Schiller war ihr Großpapa oder wenigstens ihr Onkel.«
Auf Herbert machte diese Erklärung ungeheuren Eindruck.
»Kannst du auch Verse machen?« erkundigte er sich sogleich.
Tinchen dachte einen Augenblick nach. »Nu nä, die Ferse macht immer meine Mutter. Aber sonst kann ich schon allein einen Strumpf stricken.«
Frau Professor Winter mußte sich zur Seite wenden, um ihr Lachen zu verbergen. Die Zwillinge aber lachten laut heraus. Besonders Herbert konnte sich gar nicht beruhigen.
»Hahaha, Schillers Enkelin strickt Verse – das ist ja zum Piepen.«
»Hör' doch endlich auf, Herbert.« Die Schwester gab dem Bruder einen heimlichen Stoß. Sie war für Tinchen verlegen.
Die aber wußte sich selbst zu helfen. Sie bläkte dem sie auslachenden Jungen die Zunge heraus: »Nu, wenn ihr so dämlich seid, denn gäh' ich wieder.« Und fort war Tinchen Schiller. Bubi gab ihr höflich das Geleit bis zur Gartentür. Sie hörte nicht mehr Frau Professors begütigende Worte: »Komm, Kind, du sollst erst noch ein Stück Kuchen essen«, noch Herberts Ausruf: »Na, wenn das doofe Ding eine Enkelin von Schiller ist, dann sind wir Enkel von Goethe!«
»Sie hat's doch aber gesagt«, behauptete Suse. »Wenn auch ihre Mutter bei uns reingemacht hat.«
»Die Schillern ist ihre Mutter – eine ordentliche Frau. Wenngleich ich beim Reinmachen nicht gemerkt habe, daß die Musen an ihrer Wiege gestanden haben«, meinte die Mutter lachend. »So, Suschen, nun hänge deine Sachen hier an den Garderobenhaken auf, und dann kommt zum Kaffee, Kinder.«
»Erst müssen wir doch unser neues Haus ansehen«, wandte Suse ein.
»Du hast schon lange genug genöhlt. Jetzt trinken wir erst Kaffee«, verlangte Herbert. Er hatte gut reden, denn er hatte das neue Haus bereits mit seinem Bubi in Augenschein genommen. »Es gibt Käsekuchen«, fügte er noch hinzu.
Ob nun der Käsekuchen oder des Vaters Stimme: »Ja, Kinder, woran liegt's denn noch? Bekommen wir heute keinen Kaffee?« den Ausschlag gab, Suse folgte dem Bruder ins Esszimmer. Sie war ja auch gewöhnt, sich ihm meist unterzuordnen.
Das Speisezimmer lag im Erdgeschoß. Es hatte holzgetäfelte Wände und – »ach, unser altes Büfett!« rief Suse erfreut. »Und unsere Anrichte und die Standuhr! Wie kommen denn die hierher?« Suse feierte freudiges Wiedersehen mit all den Möbeln, die man vor der Reise nach Italien in Berlin zurückgelassen hatte.
»Mit dem Flugzeug sind sie durch die Luft hergeflogen«, sagte Herbert spöttisch. »Frag' doch nicht so dumm, Suse. Ein ganzer Möbelwaggon ist doch von Berlin hierher gegangen.«
»Ist unser Mätzchen auch mitgekommen?« Suses Vögelchen war während ihres Aufenthalts in Italien bei der Großmama in Berlin geblieben.
»Nein, aber vielleicht kommt es noch angeflogen«, meinte die Mutter geheimnisvoll. Neckte Mutti sie etwa auch?
»Ißt du keinen Käsekuchen?« Herbert war bereits mit seinem Stück fertig und schielte auf Suses noch unberührtes Stück.
»Ja, gleich. Nur – Muttichen, kann ich meiner Piccola nicht erst etwas Milch geben? Sie hat sicher Durst von der Reise.« Suse war ein gutes Kind. Sie dachte immer erst an andere. Nachdem das Kätzchen sein Schüsselchen bekommen und dafür Sorge getragen war, daß Bubi ihr die Milch nicht ausleckte, ließ auch Suse es sich schmecken.
Aber rechte Ruhe hatte sie nicht dabei, trotzdem der Vater den Kindern erzählte, was er ihnen alles in Jena zeigen wollte. Das neue Haus lockte. Herbert, der schon auf eigene Faust auf Entdeckungsreisen ausgegangen war, spielte sich als Führer auf.
»Komm erst in die obere Etage, da sind die Schlafzimmer. Du, Suse, wir haben keine Kinderstube mehr. Jeder sein Zimmer für sich. Jetzt sind wir groß – fein!«
»Ach, schade!« meinte Suse betrübt. Sie hätte es eigentlich viel gemütlicher gefunden, wenn sie mit ihrem Zwilling wieder wie in Berlin eine Kinderstube gehabt hätte.
Aber als Herbert jetzt eine Tür öffnete und sagte: »Dein Zimmer, Suse, Mädels werden immer vorgezogen«, da stand sie starr.
Was – das entzückende Stübchen mit den rosenroten Tapeten, den weißen Mullgardinen an den Fenstern, mit den weißen neuen Möbeln, die mit rosengeblümtem Stoff gepolstert waren, das sollte ihr Reich sein? Zaghaft fragend wandte sie sich an die nachfolgende Mutter. Und als diese lächelnd nickte, sprang Suse mit einem Jubellaut in ihr Stübchen und nahm davon Besitz. Ach, da war ja auch ihr altes Arbeitspult, weiß gestrichen, ihr Bett, ein weißer Bücherschrank mit ihren Kinder- und Schulbüchern, nur – nur eins fehlte.
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