Professors Zwillinge in Italien
Professors Zwillinge
in Italien
Band 3
© 1927 Else Ury
© Lunata Berlin 2020
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
Über die Autorin
1. Kapitel
O bella Napoli
In die Stazione centrale, den Hauptbahnhof von Neapel, brauste der von Norden kommende Zug. Ein Herr im hellen Sommeranzug, der seit einer Viertelstunde schon erwartungsvoll auf dem belebten Bahnsteig auf und ab geschritten, seine Uhr immer wieder mit der Bahnhofsuhr vergleichend, lief aufgeregt an dem langen Zuge entlang.
Wo steckten sie denn nur, seine Lieben? Seine Frau, seine beiden Kinder, die er ein ganzes Jahr nicht gesehen hatte. Dunkelbrünette Gesichter, brennendschwarze Augen der Italiener; aber dazwischen auch hellhaarige, blauäugige Fremde, Vergnügungsreisende, die jetzt zur Osterzeit den Süden besuchten.
Vergeblich spähte Professor Winter in alle die fremden gleichgültigen Gesichter. Wo – wo mochten sie sein, sein Bubi, sein Mädichen?
»Facchino – facchino –!« schrie und hallte es über den Bahnsteig nach Gepäckträgern. Da plötzlich unter all dem Lärm des italienischen Stimmengewirrs deutsche Laute – Kinderstimmen, hell wie Lerchenschlag – »Vati – Vatichen!« Und da hing auch schon eins vorn, eins hinten den Rücken entlang, dem Vater am Hals, ihn streichelnd und küssend: »Vatichen, liebes Vatichen, nun sind wir wieder bei dir!«
»Mein Bubi – mein Mädichen – seid ihr groß geworden in dem Jahr!«
Mit dem einen Arm umschlang der Professor seine Zwillinge, mit dem andern seine Frau, die, Tränen in den Augen, vor Freude kein Wort über die Lippen brachte. So hielt er sekundenlang sein langentbehrtes Glück in den Armen. Bis eine laute Stimme sie unsanft auseinander riß. Ein Gepäckkarren fuhr gerade auf sie los.
Jetzt erst sah Professor Winter, daß er nicht nur seine beiden Kinder, Herbert und Suse, umfangen gehalten hatte, sondern noch zwei andere: den vierbeinigen, in den italienischen Bahnhofstumult auf gut deutsch blaffenden Bubi, ein schwarzes Hündchen, das sein kleiner Herr, der zweibeinige Bubi, auf dem Arm hatte, und die Puppe seines Töchterchens.
»Zuerst das Gepäck«, ordnete der Vater an, alle Wiedersehensfreude dem Notwendigen gegenüber zurückdrängend.
»Nein, zuerst der Vesuv! Wo ist er?« Herbert sah sich in der rauch- und menschenerfüllten Bahnhofshalle suchend um.
»Den wirst du schon noch zu sehen bekommen, mein Junge«, vertröstete ihn der Vater und übergab einem Gepäckträger die Handtaschen und den Schein für das große Gepäck. Dann nahm er liebevoll den Arm seiner Frau, während Suse sich an seinen andern Arm hängte. Herbert und sein Bubi aber eilten aufgeregt hinter dem Facchino mit Nr. 385 her, der das Handgepäck davonschleppte. Wenn er nun ein Dieb war und mit ihrem Eigentum davonlief?
Schreiende Hoteldiener umgaben, mit lebhaften Handbewegungen die Vorzüge ihrer Gasthäuser in allen möglichen Sprachen anpreisend, im dichten Knäuel die Ankommenden. Kaum daß man sich durch diese Menschenmauer einen Weg zu den Wagen bahnen konnte. Suse klammerte sich ängstlich an des Vaters Hand.
»Siehst du braun aus, Vatichen! Wie unser Teddybär!« Ordentlich fremd erschien dem kleinen Mädchen das von der südländischen Sonne stark gebräunte Antlitz des Vaters.
Als man nun glücklich bis zu einer Droschke durchgedrungen war, zeigte es sich, daß zwar Nr. 385 mit dem Handgepäck zur Stelle war, nicht aber der zweibeinige und der vierbeinige Bubi.
»Um Himmels willen, wo ist Herbert?« Die Mutter, von der langen Reise ziemlich abgespannt, sah sich erschreckt nach allen Seiten um.
Suse begann zu weinen, trotzdem sie schon zehn Jahre alt war. »Herbert ist fort, mein Herbert ist verlorengegangen.« Die Aufregung und Reiseermüdung löste sich bei dem Kinde in Tränen.
»Sei ruhig, Suschen, er wird gleich wieder da sein«, tröstete der Vater, angestrengt in dem Menschengewühl nach seinem Jungen Umschau haltend. Aber ein wenig unbehaglich war dem Professor selbst dabei zumute. Ein kleiner Junge allein in dem Bahnhofsgetümmel einer fremden Stadt, deren Sprache er nicht mal verstand, das war immerhin eine verwickelte Geschichte.
»Herbert – Herbert – – –«, rief er auf gut Glück in das Gewühl hinein. »Herbert – Herbert –«, schluchzte Suse hinterdrein.
»Wollen wir uns nicht lieber gleich an die Polizei wenden, Paul?« schlug die Mutter mit blassen Lippen vor. »Unser Junge kann sich doch hier im fremden Lande nicht mal verständlich machen. Auf allen Bahnhöfen unterwegs habe ich ihn nicht von der Hand gelassen, und jetzt, wo wir glücklich bei dir sind, passiert das.« Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte Frau Professor Winter es ebenso gemacht wie ihr Töchterchen, das seinen Tränen freien Lauf ließ.
Der Professor trat an einen Hüter der öffentlichen Ordnung heran. In fließendem Italienisch berichtete er, daß ihm sein kleiner zehnjähriger Sohn in Begleitung eines schwarzen Hundes abhanden gekommen sei.
Der Polizist machte seine Notizen. Name: Herbert Winter aus Berlin. Alter: Zehn Jahre. Aussehen: Hellbraunes Haar, blaue Augen, frisches Gesicht. Kleidung: Matrosenanzug, dunkelblaue Matrosenmütze. Schwarzer Hund, auf Namen Bubi hörend. Sprache: Deutsch.
Mit der Liebenswürdigkeit, die den Italiener auszeichnet, sagte der Polizist tröstlich: »Keine Angst, Signore. Sie werden den Kleinen sicherlich – spätestens morgen – auf dem deutschen Konsulat wieder in Empfang nehmen können.«
»Spätestens morgen –«. Dem Professor blieb das Wort in der Kehle stecken. Inzwischen verging seine arme Frau ja vor Angst. Er gab seine Adresse und Telefonnummer an, mit der Bitte, ihm sofort Nachricht zukommen zu lassen, wenn der Vermißte sich angefunden habe.
Unterdessen hatte sich der Wagenverkehr geregelt, auch die Menschenmenge etwas zerstreut. Autos, Hotelomnibusse und Droschken ratterten davon.
Professor Winter kehrte zu seinem Wagen zurück.
Das war ein schlechter Anfang!
»Unser Junge wird bestimmt auf dem deutschen Konsulat abgegeben, Fränzchen«, begann er beruhigend.
Seine Frau hörte ihn gar nicht. Sie stand aufrecht im Wagen, über den sonnenbeschienenen Platz erregt Umschau haltend.
»Paul, dort drüben, wo die Dienstmänner stehen, ist das nicht – ja, natürlich ist das unser Junge! – – – Herbert – Herbert – – –!« Sie rief und winkte. Das Mutterauge hatte ihn erkannt.
Schnellen Schrittes durchquerte der Professor den Bahnhofsplatz. Mitten unter einer Gruppe Dienstmänner standen ganz gemütlich der zwei- und der vierbeinige Bubi. Der zweibeinige lebhaft in deutscher Sprache redend, der vierbeinige ebenso lebhaft blaffend. Immerhin schien sich der zweibeinige doch noch besser verständlich zu machen. Die Dienstmänner lachten über den drolligen kleinen Fremden und wiesen mit der Hand auf einen im Hintergrunde der Stadt aus dem Gebirgskranz allein aufragenden Bergkegel.
»Vesuvio – si, piccolo – Vesuvio! Vesuv – ja, Kleiner – der Vesuv!« riefen sie dabei.
»Aber der raucht ja gar nicht richtig – man bloß solche olle schwarze Wolke ist da drauf! Vater,« – er lief dem auf ihn zueilenden Professor entgegen –, »Vater, warum spuckt der Vesuv denn gar kein Feuer?«
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