»Das ist Pietro, unser Hausmeister. Gebt ihm die Hand, Kinder, und sagt ihm guten Tag.«
Die Mutter reichte Pietro als erste die Hand. »Buon giorno«, sagte Pietro. Das hieß auf deutsch »Guten Tag«. Er lachte von einem Ohr zum andern vor Freude über die Ankunft der deutschen Gäste.
»Du, Herbert, der Mann trägt ja Ohrringe!« Das war das erste, was Suse, die kleine Evastochter, entdeckte.
Wirklich – große, goldene Ringe baumelten in den braunen Männerohren. Aber Herberts Interesse war von dem Gepäck noch mehr in Anspruch genommen, das der Kutscher und Pietro abluden. Ob auch alles zur Stelle war? Er fühlte sich als männlicher Reisebegleiter von Mutter und Schwester dafür verantwortlich.
Pietro rief etwas in den Garten hinein. Die fremde Sprache klang den Kindern wie Kauderwelsch in die Ohren. Nur das Wort »subito – subito –« hörten sie heraus.
Eine Frau mit bunten Kämmen im schwarzen Haar, mit lebhaften schwarzen Augen in dem dunklen Gesicht, ein rotes Tuch um die Schultern, kam eiligst herzu. Sicher hieß sie »Subito«. Sie ergriff beide Hände der deutschen Dame, dieselben mit einem unverständlichen italienischen Wortschwall an ihr Herz ziehend. Trotzdem Frau Professor Winter italienische Studien getrieben hatte, verstand sie kaum ein Wort davon.
»Das ist Teresina, Pietros Frau, die für uns kochen und der Mutter im Haushalt zur Hand gehen wird«, stellte der Vater vor.
»Ich denke, sie heißt Subito«, flüsterte Suse dem Vater zu, während die Frau den reizenden kleinen »angeli« – auf deutsch Engelchen – begeistert das kurzgeschnittene, hellbraune Haar streichelte.
»Subito heißt schnell, rasch, plötzlich«, lachte der Vater.
Durch einen wundervollen Palmengarten mit seltsamen, großen, bunten Blumen schritt man dem Hause zu.
»Du – Suse – guck' bloß mal, da wachsen ja Zitronen und Apfelsinen – richtige Apfelsinen! Dürfen wir die pflücken, Vater?« Herbert spähte aufgeregt in dunkles Laub, aus dem goldene Früchte leuchteten. Er schien Lust zu haben, sofort auf einen Baum zu klettern.
»Morgen, Kinder, jetzt wollen wir erst mal ins Haus gehen.«
War das ein merkwürdiges Haus. Ein Bogengang von weißen Säulen lief ringsherum, Blumenterrassen tragend.
»Ach, die herrlichen dunkelblauen Glockenblumen, sind die groß und schön!« rief Suse begeistert, auf das die Säulen umwindende Blütengerank weisend.
»Das ist Klematis, wie wir ihn auch bei uns zu Lande haben. Nur wird er im Norden nicht so groß, so üppig und leuchtend wie unter italienischer Sonne. Und nun seid mir von Herzen willkommen, meine Lieben!« An der Schwelle des Hauses zog der Professor Frau und Kinder noch einmal in die Arme.
»Gottlob, daß wir wieder beisammen sind!« sagte die Mutter innig. Wenn sie auch etwas vor dem neuen Leben im fremden Lande bangte, sie war ja wieder an der Seite ihres Mannes.
Die Kinder waren inzwischen durch eine große, nach dem Garten zu offene Halle, den Eltern voran, schon ins Haus gestürmt. Auf dem spiegelblanken Mosaikboden des Vestibüls begann Herbert sofort zu schliddern. Suse, so müde sie auch war, als Zwilling hinterdrein.
»Na, ihr scheint euch ja schon ganz zu Hause zu fühlen, Krabben«, lachte der Arm in Arm mit der Mutter näherkommende Vater.
»Wohnen wir oben oder unten, Vati?« erkundigte sich Suse.
»Oben und unten. Im Erdgeschoß liegt der Eß- und Wohnraum und mein Arbeitszimmer, oben die Schlafzimmer, im Souterrain die Küche. Dort wohnen auch Pietro und Teresina. Ich habe das ganze Haus für uns gemietet.«
»Ganz allein für uns? Famos! Da können wir Krach machen, soviel wir wollen, Suse, ohne daß gleich einer raufschickt und um Ruhe bitten läßt.«
»Nehmt's euch nur gut vor«, lachte der Vater.
»Wo ist denn unsere Kinderstube, Vatichen? Meine Lotti muß jetzt ins Bett. Die Schlafaugen fallen ihr schon zu.« Dabei schien die kleine Puppenmutter nicht weniger müde.
»Die Kinderstube ist im oberen Stockwerk. Von dort hat man einen herrlichen Blick aufs Meer und auf den Vesuv.«
Suse riß die vor Müdigkeit schon klein gewordenen Augen wieder weit und entsetzt auf. »Auf den Vesuv, Vati? Der Vesuv guckt in unsere Kinderstube? Da schlafe ich nicht. Da graule ich mich ja tot!« Suse fing an zu weinen.
»Mädels sind wirklich manchmal doof!« sagte Herbert im Brustton der Überzeugung, sich ganz als Mann fühlend, zum Vater. Er jagte mit dem lustig kläffenden Bubi den andern voran die weiße Marmortreppe hinauf, die ins obere Stockwerk führte.
»Wir werden Suse in das Zimmer nach hinten in den Garten hinaus einlogieren, damit das Kind zur Ruhe kommt und sich nicht aufregt«, schlug der Vater vor.
Suse wollte nichts mehr sehen, nichts mehr essen, nur ins Bett. Sie war todmüde. Als sie sich davon überzeugt hatte, daß der gefürchtete Vesuv von ihrem Fenster aus nicht sichtbar war, ließ sie sich wie ein kleines Kind von der Mutter abwaschen und zu Bett bringen. Kaum hatte sie noch Zeit, sich über das weiße Moskitonetz, das von der Decke herab das Bett umbauschte, zu wundern. Kaum dachte sie noch daran, ihrem Vati nach einem ganzen Jahr endlich wieder den Gutenachtkuss zu geben. Sie schlief noch vor ihrer Schwarzwald-Lotti, die steif und aufrecht auf einem Stuhle saß.
Der Zwillingsbruder aber war noch höchst mobil. Er schnupperte mit Bubi, dem vierbeinigen, in allen Winkeln des neuen Hauses herum und ließ sich die von Teresina gekochten Makkaroni mit Tomatensoße und Parmesankäse herrlich munden. Er war von der Terrasse mit dem weiten Blick aufs Meer nicht ins Bett zu bekommen.
Süß und schwer strömte der Blütenduft. Aus den dämmerigen Gärten, aus den ins Meer hinausgleitenden Fischerbarken klang heller Sang – o bella Napoli!
Von lautem Geschrei wachten die Zwillinge am nächsten Morgen auf. Herbert, der nach vorn heraus schlief, wollte mit einem Satz aus dem Bett und ans Fenster. Aber er stieß auf einen merkwürdigen Widerstand. Irgendein weißes Etwas, in das er sich verwickelte wie die Fliege im Gewebe der Spinne. Was war denn das für ein dummes Netz? Träumte er noch? Kräftige Jungenhände zerrten an dem störenden Ding – ritsch – ratsch – da hing es in Fetzen. Herbert aber sprang verschlafen hindurch. Es war noch dunkel im Zimmer. Dichte braune Vorhänge wehrten dem Sonnenlicht den Eintritt. Soeben hatte Herbert noch von der Waldschule geträumt. Er fand sich noch nicht wieder zurecht in der Wirklichkeit. Wieso war es denn so finster in der Kinderstube? Es war doch sonst immer ganz hell, wenn er in die Schule ging.
»Giorno – Mattina – Giorno – Mattina –«, klang das Geschrei von der Straße herauf.
Nanu?
Plötzlich zerriß auch der Vorhang, der den Jungen vom Traumland zur Wirklichkeit schied. Das waren italienische Laute – er war ja gar nicht mehr in Berlin – hurra – er war ja in Italien beim Vater!
Der dunkle Stoffvorhang vor dem Fenster wollte nicht schnell genug, von ungeduldigen Jungenhänden gezerrt, zur Seite weichen. Ach, das war ja gar kein Fenster! Eine große Glastür war es, die hinaus zur Terrasse führte. Weißer Sonnenglanz lag über der weißen Terrasse. Blumen blühten. Vögel sangen und jubilierten da draußen.
Aber die Glastür wollte nicht aufgehen, überall stieß Herbert heute auf unvorhergesehenen Widerstand. Der Mechanismus war anders, als er das von daheim her kannte. Er begann an der Tür aus Leibeskräften zu rütteln, während es von der Straße jetzt »limone – limone –« heraufschallte.
Suse war inzwischen auch von dem Geschrei munter geworden. Wieso schlief sie denn heute am Fenster? Sie kam ja mit dem Kopf immer in die Gardine. Nach welcher Seite sie sich auch wandte, überall war die alte Gardine im Wege. Aber Suse besann sich nicht lange. Sie machte es so, wie sie es von klein auf im Dunkeln gemacht hatte. Sie rief aus Leibeskräften: »Mutti – Mutti!«
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