Lavendula hauste bereits seit mehr als zweihundert Jahren in der alten Höhle im Lebensbaum und kannte den Wunderwald wie ihr Federkleid. Die Jagd spielte sich immer am Rand des Waldes ab, anschliessend kehrte sie satt und müde zurück in den dunkleren, ruhigeren Teil, um zu schlafen. Als Wächterin des Wunderwaldes kannte sie jeden Winkel, jede Pflanze, jede Wurzel, jedes Kraut und jedes Ästchen. Und sie sah alles, wusste alles, hörte und spürte alles was im Wald vor sich ging.
Lavendula putzte sich also gerade ausführlich mit ihrem krummen, spitzen Schnabel das Gefieder, wie sie es jeden Morgen tat, wenn sie von der Mäusejagd zurückkam, als sie auf einmal innehielt in ihrer Putzerei. Die beim Putzen stets konzentriert und sinnlich geschlossenen Augen öffneten sich ruckartig… erst das linke, dann das rechte. Ein Schauer lief durch ihr Gefieder. Vorsichtig kletterte sie aus der Höhle auf den Ast davor, der sich viele Meter über dem Waldboden befand. Lavendula reckte ihren Kopf in die Luft, schloss die Augen und erneut durchlief sie ein Schauer, angefangen unten bei der kleinsten Kralle bis hoch in das oberste Federchen auf ihrem stolzen Haupt.
„Endlich…“, dachte sie, „endlich!“ Und könnten Eulen lächeln, hätte sie jetzt gelächelt.

Lavendula breitete ihre gewaltigen Schwingen aus und erhob sich in die Luft, bald schon erreichte sie den obersten Teil des Baumes. Sie stieg empor bis über die höchsten Zweige, schraubte sich in den Himmel und stiess schliesslich einen markerschütternden Schrei aus – ein Schrei, der alles durchdrang und sämtliche Waldbewohner für einen kurzen Augenblick erstarren liess. Niemand wusste, was genau der Schrei zu bedeuten hatte… doch jeder wusste, dass etwas ganz Besonderes geschehen sein musste. Denn niemals, niemals würde Lavendula ihr Putzritual unterbrechen, wenn nicht etwas wirklich Unglaubliches passiert wäre!
Das Gepiepse unten auf dem Waldboden verstummte. Das Gezwitscher in den Ästen erstarb. Das Geknister und Geraschel verklang so urplötzlich wie der Eulenschrei erschallt war. Die Erde schien auf einmal stillzustehen. Tiere von nah und fern spitzten ihre Lauscher, verharrten mitten in der Bewegung und wandten ihre Sinne aufmerksam in Richtung des Herzens des Waldes, woher der unheimliche Laut gekommen war. Und dann ging es los, das Getrampel, Gewusel und Gedränge. Aus jedem Winkel des Wunderwaldes tauchten sie auf, die Eichhörnchen, Mäuse, Ratten, Kaninchen, die Vögel schlüpften aus ihren Nestern, Kolonien von Käfern und Ameisen wandten sich in Richtung des Lebensbaums. Sie alle folgten dem Ruf der Eule, es herrschte ein heilloses Durcheinander, eine wilde Aufregung. Gross und klein eilte heran, alle von einem gemeinsamen Ziel geleitet: dem Baum des Lebens. Und da stand er, eine ruhige Insel inmitten des Tumults, liess sich weder beeindrucken vom Lärm, noch von der Menge und dem Gedränge rund um seinen mächtigen Stamm. Stumm reckte er seine Äste ins Firmament und schwieg, als ob alles ganz normal wäre.
Jäh verstummte der Lärm. Es schien als ob den Waldbewohnern auf einmal bewusst wurde, wo sie sich befanden: im verbotenen, im magischen Teil des Waldes. Die wenigsten unter ihnen hatten diesen Teil schon mal betreten und jene die es bereits hatten, schwiegen. Es war, als ob die Stille auf einmal wie eine Woge über die Tiere hinwegrollte und alles unter sich begrub. Die Magie war schlagartig allgegenwärtig und sogar das kleinste Mäuschen spürte diese plötzliche Veränderung der Atmosphäre. Schnauzhaare erzitterten, die Kleinen versteckten sich hinter den Grossen und da und dort wurde nervös einen Schritt zurück gewichen oder auf der Stelle gescharrt.
Da teilte sich das Blätterdach. Majestätisch schwebte Lavendula begleitet von einem leisen Rauschen durch die Baumkronen, liess sich von ihren Schwingen nach unten tragen und setzte sich würdevoll auf den dicksten der untersten Äste. Ein Hauch Lavendel hing in der Luft und Lavendula liess ihren stechenden Eulenblick ehrwürdig und ein bisschen hochmütig – aber gütig – über die versammelten Tiere gleiten. Die Mäuse machten sich noch kleiner als sie ohnehin schon waren und versteckten sich hinter den Bibern. Die Kaninchenschwänze zitterten. Doch Lavendula war nicht hier um zu fressen.
„Wir haben uns hier versammelt“, sprach sie schliesslich mit leisem Krächzen, „weil etwas Unglaubliches geschehen ist. Niemand von uns hat jemals etwas Ähnliches miterlebt. Aber einige von euch haben schon davon gehört. Wir haben uns hier versammelt“, flüsterte sie, „weil heute ein Serin geboren ist.“
Und sie weiss es nicht...
Ein Raunen ging durch die Versammlung der Waldtiere.
„Ein Serin?“, quietschte aufgeregt die Ratte. „Was in Dreiteufels Namen ist ein Serin??“
„Ein Serin….“, wiederholte andächtig der alte Biber und kratzte sich mühsam mit seiner Hinterpfote am linken Ohr. „Das bedeutet…“
Etliche jüngere Tiere blickten ein wenig ratlos die alte Eule an. Die älteren unter ihnen hingegen nickten wissend und staunend. Ehrfurcht war in ihren Augen zu lesen, aber auch Angst.
Lavendula räusperte sich, und erneut kehrte Ruhe ein. Ernst schweifte ihr Eulenblick über die Versammlung.
„Uns widerfährt gerade grosses Glück. Serins sind Weltretter. Ein Serin wird nur dann geboren, wenn irgendwo grosse Gefahr droht.“ Lavendula atmete tief ein. „Unsere Welt ist in Gefahr, Freunde. Ich spüre es schon lange. Auch wenn ich euch leider nicht sagen kann, wo oder was diese Gefahr ist. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was unsere Welt bedroht. Ich weiss es einfach nicht.“ Sie schloss die grossen gelben Augen. Auf einmal lag unaussprechliche Furcht in der Luft. Bestürzung, die kleinen und die grossen, die jungen und die alten Tiere starrten auf ihre Hüterin, wie gelähmt. Lavendula wusste es nicht. Lavendula wusste es nicht! Das war unmöglich… denn Lavendula wusste immer alles. Alles. Wie eiskalte Klauen umfasste eine Heidenangst die Herzen der Tiere. Beschämt und erschüttert über das Grauen in den Augen ihrer Freunde senkte Lavendula den Blick. Sie wusste es einfach nicht. Schliesslich atmete sie tief ein und schwellte die Brust. Würdevoll überblickte sie die Menge. Die Tiere glaubten an sie. Schenkten ihr grenzenloses Vertrauen. „Der kleine Waldserin muss hier ganz in der Nähe sein. Ich spüre es genau. Heissen wir ihn willkommen! Kümmern wir uns um ihn!“, sprach sie feierlich und reckte ihren Schnabel hoch in die Luft, um erneut einen lauten Eulenschrei auszustossen. Dies riss die Tiere aus ihrer Starre. Das Gepiepse, Gezwitscher, Geknister und Geraschel setzte urplötzlich wieder ein, diesmal aber noch um einiges lauter als zuvor. Jetzt galt es, den Serin zu finden!
Was die Tiere nicht wussten, war, dass sich der kleine Serin näher befand als sie alle ahnten. Denn niemand, nicht einmal die alte, weise Lavendula kannte das Geheimnis des Lebensbaums: seine grosse Höhle hinter dem Efeuvorhang und den Buschfarnen. So befand sich der Serin also mitten unter ihnen, nur ein paar Meter entfernt von der grossen Tierversammlung ohne dass es jemand wusste. Lavendula spürte zwar, dass er in der Nähe sein musste, aber wo genau er war, wusste sie nicht. Auf ihrem Ast thronend wies sie nun die Tiere an und leitete ihre Suche. Gross und klein schnüffelte, scharrte und suchte hinter jedem Blatt, unter jeder Wurzel. Die Vögel und Eichhörnchen durchkämmten das Blätterdach, die übrigen Tiere übernahmen das Dickicht am Waldboden. Da und dort durchbrach ein Ruf das emsige Treiben…
„Da… vielleicht…! …. Ah, nein….“
„Aber eventuell ….. dort…! … Ach, doch nichts…“
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