Und wurde man ganz still und lauschte, schien es, als ob der Wald atmete. Ein – aus – … tiefe, langsame Atemzüge, leicht zu verwechseln mit einem Windhauch…
Und genau deshalb hörte man in diesem Moment das seltsame Geräusch umso deutlicher. Es durchdrang jetzt diese friedliche Stille geradezu störend und es war nun leicht zu erkennen, dass dies ganz bestimmt nicht nur das Piepsen einer Waldohreule sein konnte!
„Auuuuuu! Ach… oh!“ Die Stimme klang gedämpft und kam ganz eindeutig aus der Richtung der kleinen Lichtung neben einem winzigen Bach. Dort stand ein mächtiger Baum. Würde man seinen Stamm mit den Armen umfassen, bräuchte es dazu mindestens sieben Kinder, so dick war er. Seine Rinde war grob und rau, überwachsen mit Flechten und Moos, hatte Risse und Löcher. Der Baum war uralt. Wie ein Gigant überragte er alle anderen Bäume und streckte seine Äste weit höher als man erahnen konnte, über die Baumwipfel seiner Nachbarn, über das Waldblätterdach bis hoch in den Himmel, wo seine obersten Zweige schliesslich das Licht berührten. Dieser Baum wuchs schon seit mehr als tausend Jahren, er war der Anfang und das Ende des Wunderwaldes, er war der Baum des Lebens.
In seinen obersten Ästen, welche die Sonne berührte, pulsierte das Leben. Zahllose Vögel bauten dort ihre Nester, legten ihre Eier und fütterten ihre Brut. Da waren sie wieder, die Eichhörnchen und Siebenschläfer, Käfer, Würmer, Spinnen und Raupen, die auf den Ästen des Lebensbaumes wohnten und die man weit, weit unten, am anderen Ende des Baumes, vermisst hatte. Da war es wieder, das Gepiepse, das Gezwitscher, das Geknister und Geraschel. Da oben blühte der Baum, jeder Zweig war bedeckt von unbeschreiblich schönen Blumen, gross wie Kohlköpfe, leuchtend und funkelnd wie Zauberblumen und duftend wie Orchideen. Bunte Schmetterlinge schaukelten und saugten den Nektar. Da und dort wuchsen sogar ein paar Früchte, sonderbare Früchte, so wie wir sie hier nicht kennen. Sie sahen ein bisschen aus wie Trauben, waren aber viel grösser und gelb, einige sogar ein bisschen orange. Man hatte fast das Gefühl, sie leuchteten von innen und wenn man genau hinsah, sah man durch die durchsichtige Haut in ihrer Mitte kleine, goldene Kerne schimmern.
„Aaaaauaaah………..!“ Schnell, wieder zurück nach unten… was klang hier bloss so seltsam?
Der Lebensbaum hatte in den mehr als tausend gelebten Jahren schon so einiges erlebt. Unwetter, Stürme, hungrige Hörnchen oder Rehe, die sich an seiner Rinde sattfrassen. Käfer und Spechte suchten sich ihr Futter in seinem Gehölz, bohrten Löcher, ritzten Spalten und hatten mit den Jahren seinen untersten Teil immer mehr ausgehöhlt. Nicht umsonst jedoch war der Lebensbaum der Baum des Lebens , all seine kleinen und grossen Verletzungen schadeten ihm nichts, er wuchs immer weiter und das Leben strömte nach wie vor mit viel Energie durch seine Adern. Dennoch glich der unterste Teil seines Stammes mittlerweile einer riesigen Höhle. Der gigantische Riss jedoch, der den Eingang bildete, war verborgen unter einer Art Vorhang aus Efeu und somit für einen Besucher, der nur flüchtig hinsah, kaum zu erkennen.
„Oooh…uff!“ Ja, genau durch diesen Efeuvorhang schien das Stimmchen zu kommen. Es klang inzwischen ziemlich erschöpft.
In der grossen Baumhöhle hinter den Buschfarnen und dem Efeuvorhang lag in einem seidenfeinen Nest aus Federn und Gras ein grosses Ei. Das Ei schimmerte bläulich und wenn man die Höhle betrat, erkannte man feine Risse auf seiner Oberfläche.
„Uff, uff, ahhh!“
Die Stimme erklang nun etwas lauter. Sie kam direkt aus dem Ei! Und da, in exakt diesem Moment, durchbrach etwas Kleines, Kräftiges die bläulich schimmernde Schale mit einem lauten Krachen. Heraus purzelte ein kleines Wesen und blieb zusammengerollt im Federnest liegen, japsend und keuchend. Das kleine Wesen sah aus der Nähe betrachtet fast aus wie ein winziger Mensch. Hände, Finger, Füsse, Zehen, zwei kleine Beinchen, zwei Arme, alles war da. Und – ein langer Schwanz. Die Haut schimmerte bläulich wie das Ei und auf dem Kopf des kleinen Dinges wucherte eine dunkelblaue Mähne, wirr und wild standen die Haare in alle erdenklichen Richtungen und liessen die abstehenden, spitzen Ohren fast verschwinden.
Der Kleine atmete nun etwas ruhiger und hob schliesslich vorsichtig seinen Kopf. Zwei grosse, graue Augen umgeben von dichten, langen Wimpern, blickten sich neugierig in der Höhle um. Die Stupsnase übersät mit Sommersprossen zuckte… zuckte nochmals… und mit einem lauten HATSCHI ! setzte sich das Kerlchen schliesslich auf. Es reckte und streckte sich, blinzelte zwei, drei Mal und wirkte etwas verloren, so ganz alleine in der grossen, finsteren Baumhöhle.
Dieses einmalige Ereignis mitzuerleben ist für uns eine grosse Ehre. Es kann in hundert Jahren nur ein einziges Mal vorkommen, dass ein Serin ausschlüpft und genau das war es: Die Geburt eines Waldserin. Waldserins sind sehr selten. Sie kommen nur dann, wenn sie gebraucht werden. Doch wozu konnte man einen Serin brauchen? Serins sind kleine Retter. So ist die Geburt eines Serins nicht nur eine Ehre, weil sie so selten vorkommt… sondern auch ein Zeichen der Beunruhigung. Denn wenn ein Serin auftaucht, bedeutet dies, dass etwas nicht stimmt. Und doch bedeutet es gleichzeitig unfassbares Glück… denn nur wenn alles stimmt, das Wetter, die Wärme, die Anzahl der Regenbogen und die Richtung des Windes, kann es einmal in hundert Jahren klappen, dass sich ein Waldserin-Ei bildet. Niemand weiss, wie und woraus diese Eier entstehen. Niemand weiss, woher sie kommen. Ein Serin-Ei ist einfach plötzlich da. Und dieses Ei war – gut verborgen – in der Höhle des Lebensbaums vor sich hingewachsen, immer grösser und schöner geworden, bis heute der grosse Tag gekommen war und der Winzling sich schlussendlich seinen Weg in die Freiheit nach draussen durch die Eierschale erkämpft hatte.

Der kleine Serin wusste nicht, dass er ein Serin war. Er wusste weder, wer, noch wo er war und er wusste auch nicht, was er jetzt machen sollte. Schliesslich rollte er sich wieder zusammen neben der zerbrochenen Eierschale, machte sich ganz klein und kuschelte sich in sein Nest aus Gras und Federn. Er legte sein Köpfchen auf eine besonders weiche Daune, umschlang sich selbst mit seinem langen Schwanz, schloss die grossen Augen und schlief fast auf der Stelle ein.
Lavendula putzte sich gerade ausführlich mit ihrem krummen, spitzen Schnabel das Gefieder, wie sie es jeden Morgen tat, wenn sie von der Mäusejagd zurückkam und sich bereit dazu machte, den lieben langen Tag über zu schlafen.
Diese tägliche Reinigung war ihr sehr wichtig… denn Lavendula war nicht nur eine sehr kluge und weise alte Eule, sondern auch eine extrem eitle. Jedes Federchen musste an seinem Platz sein und glänzen. Vorher schloss Lavendula niemals ihre grossen gelben Augen. Zudem führte sie ihr Flug jeden Morgen an der kleinen Lichtung neben dem Bach vorbei, bevor sie sich ihrem Baumloch hoch in den Ästen des Lebensbaumes näherte um zu schlafen Dort legte sie eine kleine Pause ein. Ihr – wie sie meinte – gut gehütetes Geheimnis war ein prächtiger Lavendelbusch hinter der wilden Magnolie, unauffällig mitten im Teppich der violetten Waldveilchen verborgen. An diesem wilden Lavendel rieb sie sich jeden Morgen und wälzte sich sogar darin (natürlich erst, wenn sie sich ganz sicher war, dass sie nicht beobachtet wurde). Dieses Ritual verlieh Lavendula ihren stets frischen Duft nach Lavendel und daher stammte auch ihr Name. Wie schon ihre Ururahnin Glyzinia und ihre Urahnin Magnolia war auch Lavendula dem Zauber der Blütenpracht und deren Duft verfallen – was ihre einzige kleine Schwäche war. Das Geheimnis ihres zauberhaften Lavendelduftes musste um jeden Preis ein solches bleiben… nicht auszudenken, was passierte, wenn die Tiere davon erfahren würden. Jedes Lebewesen hier im Wald hatte riesengrossen Respekt vor Lavendula. Immer schön anzusehen, immer gut duftend und dazu unbeschreiblich klug… die alte Eule wurde bewundert. Zwar war es bei den Mäusen eher Angst als Respekt, aber sogar sie wagten es, wenn sie ein wirklich grosses Problem hatten, sich den Rat von Lavendula zu holen… In der verzweifelten Hoffnung, dass sie gerade erst gefressen und somit keinen Hunger haben würde.
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