„Haargummi vergessen?“
Nelly nickte. Sie schaute dem Schwarm ihrer Freundin in die blauen Augen mit den langen Wimpern und konnte Simona in diesem Moment gut verstehen. Sein Gesicht war schmal, auch die Nase. Der Mund mit den vollen Lippen wurde von einigen kurzen Barthaaren eingerahmt. Sein dunkelblondes Haar war locker nach hinten gestylt, er trug einen winzigen Stein im linken Ohrläppchen und zeigte ihr nun ein Lächeln mit blendend weißen Zähnen. Unter seinem weißen T-Shirt zeichnete sich ein gut trainierter Oberkörper ab. Seine Haut war glatt und gebräunt und mit einem Windzug wehte Nelly ein edler Duft entgegen. Ricardo zwinkerte ihr zu, rutschte von der Tischtennisplatte und griff nach seiner Schultasche. An der Treppe drehte er sich noch einmal um.
„Und schön sauber machen, Kleine.“
Nelly hatte es die Sprache verschlagen. Was war los mit ihr? Sie konnte nicht mehr atmen und sich nicht bewegen. Eigentlich müsste sie jetzt Besen und Schaufel holen, aber sie war wie versteinert. Dieses Zwinkern am Schluss galt ihr allein. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Oh nein, dachte Nelly, ich bin verknallt. War das die berühmte Liebe auf den ersten Blick? Seufzend kniff sie sich in den Oberschenkel, was sie endlich wieder zur Besinnung brachte.
„Simona, verzeih mir. Ich bin verknallt.“
Dann lief sie zum Hausmeister und begann den Hof zu kehren, nachdem sie das Werkzeug erhalten hatte. Der hatte schmierig gegrinst, denn der wusste genau, warum die Schülerinnen das tun mussten. Er mochte Frau Bürau sehr. Der Schulhof war meist wie geleckt, denn nach der Stunde ging sie mit der Betroffenen über die Steine und zeigte auf jeden noch so kleinen Krümel, der liegengeblieben war. Für die Schülerin war das immer sehr peinlich, darum gaben sich alle sehr große Mühe.
Morgen werde ich mir fünf Haargummis in die Sporttasche packen, schwor sich Nelly insgeheim.
Katja war zuerst zuhause und hatte ihre Schultasche auf dem kleinen Schrank im Flur abgelegt, ehe sie durstig an den Kühlschrank ging, eine halbvolle Wasserflasche herausnahm und in einem Zug leerte. Dann schüttelte sie sich, denn das eisige Wasser hatte ihren Kopf schmerzen lassen. Sie räumte die leere Flasche in den Kasten in der Speisekammer neben der Küche.
Die Tür ging auf und sie hörte Nelly rufen: „Mama, ich bin schon da. Wo bist du?“
„Küche. Hast du Hunger?“
Nelly war zu ihrer Mutter getreten und hatte sie auf die Wange geküsst. Dann fiel ihr ein, dass sie direkt die Haargummis einstecken wollte und rannte ins Bad. Dort riss sie die Dose mit den Sachen für die Haare vom Schrank und schüttete sie auf den Boden. Sie fand vier feste, schmale Gummis und packte sie in die Sporttasche. Ihre Mutter hatte begonnen, einen Salat, zwei Tomaten und eine halbe Gurke zu schneiden.
Als Nelly wieder in die Küche kam, hatte sie sich umgezogen und setzte sich versonnen lächelnd an den großen Küchentisch. Katja war schon aufgefallen, dass ihre Tochter nicht wie sonst gleich lossprudelte, was in der Schule gewesen war, und drehte sich zu ihr um.
„Schatz, ist etwas passiert? Du bist so schweigsam, war dein Tag nicht gut?“
„Ja … nein … ja, doch, er war blöd und gut. Ich hatte meine Haargummis vergessen und musste den Hof kehren.“
Sie schwieg. Katja hatte den Salat und das andere Gemüse in eine Schüssel gegeben und kam nun an den Tisch, um ein Joghurt-Dressing aus der Flasche darüber zu geben.
„War das der blöde oder der gute Teil? Da kommt doch noch etwas? Du siehst aus, als wenn du dich verliebt hättest.“
„Oh Mann, als ich nicht mit in die Turnhalle durfte, habe ich den aufregendsten Jungen getroffen, den coolsten Typen der Schule und er hat mit mir geredet. Er ist so süß. Aber …“
Nelly schwieg resigniert, ihr Blick verfinsterte sich.
„Aber?“
Katja hatte den Tisch gedeckt und frisches Baguette zum Salat aufgeschnitten. Nun sah sie Nelly neugierig an.
„Erstens“, begann diese, wie um sich selbst zu überzeugen, „ist er viel zu alt. Zweitens liebt Simona ihn. Drittens mag ich mich nicht verlieben. Das gibt nur Ärger und endet mit Tränen.“
„Woher hast du denn diese Weisheit?“
„Das hat Simonas Mutter gesagt.“
„So ein Quatsch. Wenn der Richtige kommt, dann weiß man das …“
Plötzlich stockte Katja. Ausgerechnet sie wollte jemandem Ratschläge in Sachen Liebe geben. Sie musste an den langen Weg der Schmerzen und Irrtümer denken, den sie gegangen war, ehe sie endlich die richtige Entscheidung getroffen und zu Christian ja gesagt hatte. Nun grinste sie.
„Es tut mir leid, mein Mädchen, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es manchmal sehr schwer ist, den Richtigen zu finden. Ein bisschen hat Simonas Mutter schon recht: Es gibt oft Ärger und Tränen, aber die Liebe ist etwas Besonderes und manchmal dauert es ewig, bis man sie findet. Manchmal kann man sie auch nicht festhalten und manchmal ist es der Falsche.“
„Warum bist du eigentlich schon so alt? Wolltest du keine Kinder?“
„Das ist eine lange Geschichte.“
„Ich habe meine Hausaufgaben in der Freistunde gemacht. Also habe ich Zeit. Ich bin fast erwachsen, also möchte ich gerne ein wenig mehr über die Vergangenheit wissen.“
„Wir essen auf und dann gehen wir ein Stück mit Wuschel, in Ordnung?“
Wuschel, der die ganze Zeit still und aufmerksam unter dem Küchentisch gelegen hatte, hörte seinen Namen und hob den Kopf. Nelly strich sanft über sein lockiges Fell, dann nickte sie ihrer Mutter zu. Beim Abräumen betrachtete sie Katja genauer. Trotz ihrer sechzig Jahre war ihre Mutter jung geblieben. Sie trug Jeans, ein T-Shirt und war barfuß. Ihre schlanke Gestalt war die eines jungen Mädchens. Nelly überlegte, dass Katja besser und jünger aussah als manche andere Mutter in ihrer Klasse. Das lange, braune Haar hatte sie heute zu einem Knoten gebunden und so fielen die grauen Strähnen kaum auf. Kleine Härchen hatten sich aus dem Knoten gelöst und standen widerspenstig in der Luft.
„Mama, du bist die allerschönste Frau, die ich kenne. Wenn ich mal alt bin, will ich so sein wie du.“
„Du wirst viel besser aussehen, denn du ruhst dich ja aus, statt deiner alten Mama im Haushalt zu helfen. So, zieh dir was an, wir gehen dann los. Komm, Wuschel!“
Der kleine, schwarze Hund schoss unter dem Tisch hervor und sprang an Katja hoch, die die Leine in der Hand hielt. Sie schlüpften in die Turnschuhe und machten sich auf den Weg in die Weinberge. Anschließend wollten sie Christian am Weingut besuchen und gemeinsam mit ihm und Benjamin Kaffee trinken.
„Alter, wo bleibst du denn so lange?“, fragte Kevin, als Ricardos Sportwagen vor der Schule hielt.
„Ich habe noch etwas zu trinken besorgt, also halt die Klappe. Wo ist Martin?“
„Der musste noch dableiben und mit der Chemie-Zicke reden. Wer weiß, was schon wieder los ist.“
Kevin Gruhsek lümmelte sich auf die schmale Rückbank des Autos und zündete sich eine Zigarette an. Er blies den Rauch durch die Tür nach draußen, denn Ricardo war empfindlich, was seinen Wagen anging. Der blonde, langhaarige, junge Mann war spindeldürr und hatte ein sehr schmales Gesicht mit wässrigen, grauen Augen und einer Hakennase. Er war immer blass, selbst wenn er stundenlang in der Sonne war. Kevin war die Nummer Drei in der Clique, Ricardo und Martin wollten ihn erst nicht dabeihaben, aber dann stellte sich heraus, dass Kevin Dinge besorgen konnte, die man heute so brauchte, wenn man etwas auf sich hielt. Er bekam nie ein Mädchen ab und so hatten die Freunde ihm zum letzten Geburtstag den Besuch einer Nutte geschenkt. Kevin hatte hinterher geprahlt, was er für ein toller Kerl war, so sehr hatte er sich dafür geschämt, dass nichts gelaufen war. Die junge Dame hatte sich ehrlich bemüht, aber das einzige, was sie für ihn tun konnte, war zu schweigen über die Schmach.
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