Simona beobachtete ihn ohne Scheu, wie er an einem der anderen Tische bediente.
„Er sieht aus wie ein Allerweltskerl. Dunkle, kurze Haare, graue Augen, böser Blick. Und dann diese Tattoos, das geht gar nicht. Seine Nase ist mir zu groß. Seine Lippen sind zu schmal.“
„Uh, Simona, du bist so oberflächlich. Seine Nase ist schön. Vielleicht hat er einen guten Charakter.“
„Ach, als ob es darauf ankommt. Mein Freund muss toll und aufregend sein. So wie Ricardo.“
„Dein Ricardo hängt aber immer mit diesen beiden unheimlichen Typen herum. Wenn ich an den mit den langen Haaren denke, dann kriege ich eine Gänsehaut. Der hat gar keine Mimik. Und der andere platzt fast vor Arroganz. Wenn ich den schon reden höre! Wie ein alter Mann.“
„Die beiden mag ich auch nicht, aber es ist mir egal. Ricardo schaut mich auf keinen Fall an, dem bin ich sicher zu kindisch.“
Der Kellner brachte die Getränke, er stellte die beiden Gläser mit Apfelschorle auf einen Untersetzer und fragte, ob sie schon etwas zum Essen gewählt hatten.
„Ich nehme eine Pizza mit Salami und Pilzen und das Geburtstagskind?“
„Ich mag heute keine Pizza, die kann ich jeden Tag haben. Lasagne Bolognese bitte und einen kleinen Salat mit Joghurt-Dressing dazu. Geht das?“
„Natürlich geht das. Darf es danach noch ein kleines Dessert sein?“
Simona schaute den jungen Mann pikiert an.
„Das wissen wir erst, wenn wir aufgegessen haben.“
Nelly sagte streng: „Also nun sei mal nicht so unhöflich. Wir nehmen ein Dessert, aber was, das entscheiden wir später. Danke.“
Der Kellner ging von dannen. Simona redete weiter über Ricardo, in den sie verknallt war, seit sie an der Schule waren. Aber sie hatte recht: Er beachtete sie überhaupt nicht. So ein Typ wie er gab sich nicht mit kleinen Mädchen ab. Sie hörte Simona seufzen.
„… er mich nur einmal küssen würde, das wäre schon toll.“
„Ja, ich gehe am besten morgen mal hin und frage ihn, ob er dich küsst, wenn du dann aufhörst, über ihn zu reden.“
„Untersteh dich!“, rief Simona, die eigentlich immer nur mit dem Mund mutig war, wenn es darum ging, etwas zu tun, dann kniff sie sehr gerne.
Nun mussten die beiden Mädchen lachen.
„Tut mir leid, Süße, ich hatte ganz vergessen, dass heute DEIN Tag ist. Also sage mir, was dich bewegt, jetzt, wo du ein Jahr älter bist. Welcher Junge könnte dich interessieren?“
„Mich interessiert niemand. Ich habe jetzt einen Hund, wer braucht da schon Jungs? Und dann gibt es da noch einen coolen Typen in meinem Freundeskreis. Aber wir sind schon so lange Freunde, da geht das mit einer Beziehung nicht.“
„Wer? Warum weiß ich nichts davon?“
„Oliver ist der Enkel von Bea, der besten Freundin meiner Mutter. Er studiert schon mit seinen einundzwanzig. Darum ist er nur selten bei seiner Oma. Er ist voll süß und nett, aber viel zu alt.“
„Wie sieht er aus? Hat er eine Freundin? Hast du ein Foto?“, bestürmte Simona Nelly mit Fragen, als die Pizza kam.
„Guten Appetit, die Damen. Das Geburtstagkind bekommt noch eine Überraschung.“
Nelly schaute den jungen Mann an und senkte verlegen den Blick.
„Ach, das ist doch nicht nötig. Es ist auch so ganz toll hier. Arbeitest du immer hier? Du bist doch auf unserer Schule, oder?“
„Ja, das Restaurant gehört meinem Onkel und ich verdiene mir mein Taschengeld an den Wochenenden. Und ja, ich bin auf eurer Schule. Dann lasst das Essen nicht kalt werden. Ich bin übrigens Paolo.“
„Danke, Paolo. Dann freue ich mich mal auf die Überraschung.“
Simona sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach.
Sie flüsterte: „Ich glaube, der steht auf dich.“
„Quatsch, der ist nur höflich. Und jetzt iss! Guten Appetit. Gib mir eine kleine Ecke zum Probieren. Magst du von der Lasagne kosten?“
„Nein, lass mal, hier hast du eine Ecke, aber du musst mir nichts abgeben. Nudeln am späten Abend machen dick. Hau rein, Geburtstagskind.“
Nach dem Essen räumte Paolo den Tisch ab, nach drei Minuten kam er mit den Desserts wieder. Es waren zwei Portionen Tiramisu, auf dem einen glitzerten die Funken einer Wunderkerze.
„Die Desserts gehen aufs Haus. Das ist bei Geburtstagskindern immer so.“
Paolo hatte das Wort Kinder extra betont und sah, wie Nellys Lippen ein Strich wurden. Eine Sekunde später war der Ärger fort und sie strahlte.
„Danke, das ist super.“
Paolo ging weg und ein anderer Kellner kam später abkassieren. Nelly nahm das neue Handy und rief ihren Vater an, der in einer halben Stunde kommen würde, um sie wieder abzuholen. Als Nelly sich beim Hinausgehen noch einmal nach Paolo umschaute, sah sie ihn im hinteren Bereich stehen und lächeln. Sie hob den Zeigefinger und winkte leicht. Er zwinkerte nur.
Der Abend endete mit Mädchengeschnatter in Nellys Zimmer. Nelly berichtete ausführlich von Oliver und zeigte Bilder von ihm. Irgendwann wurde es still und der Geburtstag war vorbei.
Nelly hatte in den zwei Wochen nach ihrem Geburtstag Paolo nur einmal kurz in der Ferne auf dem Schulhof gesehen. Nun stand sie mit Simona und drei weiteren Mädchen aus der Klasse vor der Sporthalle. Gleich würde Frau Bürau kommen, die sie seit der fünften Klasse unterrichtete. Nelly kramte in ihrer Sporttasche nach einem Haargummi, denn die strenge Sportlehrerin verlangte von den Mädchen mit langen Haaren einen geflochtenen Zopf. Simona schaute unruhig zwischen den anderen hinunter zum großen Schulhof, wo ihr großer Schwarm Ricardo Linda Vahrek aus der elften Klasse küsste. Die beiden schienen seit einer Woche ein Paar zu sein. Dementsprechend mies war Simonas Laune.
„Was findet er an der? Die ist doch so eine Püppi ohne Hirn.“
Norma sagte trocken: „Die macht mehr als küssen. Ich habe gehört, sie hat schon fast alle Oberstufenschüler durch.“
„So eine Schlampe“, zischte Ina, die Mitleid mit Simona hatte. „Er würde viel besser zu dir passen. Ich finde ihn auch so süß.“
„Verdammt, wo ist dieser blöde Haargummi?“
Nelly hatte nur mit halbem Ohr zugehört, richtete sich nun verärgert auf und warf die Sporttasche zu Boden.
„Hat eine von euch noch einen Haargummi? Sonst muss ich den Hof kehren.“
Die Mädchen schüttelten den Kopf. Simona und Ina benötigten ihren selbst, Norma hatte genauso kurze Haare wie Becky, die wie immer schwieg. In dem Moment bog Heide Bürau um die Ecke. Die drahtige Frau Mitte fünfzig hatte wie immer den mausgrauen Trainingsanzug und die dazu passenden Turnschuhe an, die Scharen von Gymnasiasten zu wilden Geschichten inspiriert hatten. Einige sagten, der Anzug sei ein Erbstück von ihrer Mutter, andere behaupteten, Heide Bürau gesehen zu haben, als sie mit einer große Tasche aus der Kleiderkammer kam. Die Mädchen hatten Angst vor ihr, denn sie war gemein und wenn eine Schülerin unsportlich oder übergewichtig war, wurde sie von ihr vor der ganzen Klasse vorgeführt. Oft gab es Tränen im Sportunterricht.
Nelly trat an die Lehrerin heran und sagte kleinlaut: „Frau Bürau, ich kann meinen Haargummi nicht finden. Darf ich ausnahmsweise …“
Weiter kam Nelly nicht, denn die Lehrerin fiel ihr ins Wort: „Tja, Fräulein, du weißt, was das heißt. Keine Diskussion. Geh zum Hausmeister und hol den Besen und die Kehrschaufel!“
Nelly sah hilfesuchend zu Simona, aber die schüttelte nur den Kopf. Genervt nahm Nelly ihr Sportzeug und die Schultasche und lief die Treppe hinunter zum großen Schulhof, auf dem das Pärchen immer noch knutschend stand.
„Scheiße, so eine blöde Kuh!“, fluchte Nelly und warf ihre Sachen auf die Tischtennisplatte.
Sie sah, wie Ricardo seine großen, gepflegten Hände fest auf Lindas Po drückte und hörte sie dazu kichern. Dann machte sich Linda los, grinste Nelly an und lief eilig ins Haus. Ricardo drehte sich zu Nelly um, klatschte in die Hände und kam auf sie zu. Mit einem lässigen Schwung setzte er sich auf die Tischtennisplatte.
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