Um diese Zeit trug sich etwas zu, was die Möglichkeit eines Verkehrs mit seinen Nachbarn zu eröffnen schien. Eines Tages, als er ein Paar Schuhe ausbessern lassen wollte, sah er die Frau des Schuhflickers am Feuer sitzen und an den schrecklichen Symptomen einer Herzkrankheit leiden, die er von dem Sterbebette seiner Mutter als Vorläufer des Todes kannte. Bei diesem Anblick und dieser Erinnerung erwachte sein Mitleid, und da ihm einfiel, wie gut seiner Mutter ein einfacher Trank von Fingerhut bekommen sei, so versprach er der armen Sally Oates, er wolle ihr etwas zur Erleichterung bringen, da ihr der Doktor doch nicht helfen könne. Bei dieser menschenfreundlichen Handlung hatte Silas zum ersten Mal, seit er nach Raveloe gekommen, ein Gefühl der Einheit zwischen seinem vergangenen und gegenwärtigen Leben, und vielleicht hätte ihn dies aus der insektenartigen Existenz, in die seine Natur versunken war, allmählich retten können. Aber Sally war durch ihre Krankheit zu einer sehr interessanten und bedeutenden Person geworden, und die Tatsache, daß ihr ein Tränkchen von Silas Marner geholfen hatte, wurde allgemein besprochen. Wenn Doktor Kimble Medizin gab, so war es natürlich, daß die half, aber wenn ein Weber, von dem niemand wußte, wo er her sei, mit einer einzigen Flasche von braunem Getränk Wunder wirkte, so war es klar, daß das nicht mit rechten Dingen zuging. So etwas hatte man nicht erlebt, seit die weise Frau in Tarley gestorben war, und die verstand sich auf Besprechungen so gut wie auf Tränkchen; alle Leute gingen zu ihr, wenn die Kinder Krämpfe hatten. So einer mußte Silas Marner auch sein; denn wie hätte er wohl wissen können, was Sally Oates ihren Atem wiedergebe, wenn er nicht ein gut Teil mehr wüßte? Und die weise Frau hatte gewisse unverständliche Worte vor sich hingemurmelt, und wenn sie dabei dem Kinde ein Stückchen roten Faden um die Zehe band, so schützte das gegen den Wasserkopf. Es gab Frauen in Raveloe, die ein kleines Beutelchen von der weisen Frau um den Hals getragen und in Folge dessen nie ein blödsinniges Kind gehabt hatten. Auf so was verstände sich Silas Marner gewiß auch und wohl noch auf mehr, und jetzt sei es auch ganz klar, weshalb er so aus der Fremde hergekommen und so kurios aussähe. Aber Sally Oates müsse sich wohl hüten und dem Doktor nichts davon sagen, denn der würde gewiß wild auf Marner; auch gegen die weise Frau sei er immer böse gewesen und habe oft gedroht, wer zu ihr ginge, dem verschreibe er nichts mehr.
So fand Silas plötzlich sich und seine Hütte von Müttern belagert, denen er die Milch wieder geben oder deren Kindern er den Keuchhusten besprechen sollte, und von Männern, die Mittel gegen Rheumatismus und Warzen verlangten, und, um sich gegen eine abschlägige Antwort zu sichern, hielten die Kunden immer Geld in der offenen Hand. Silas hätte ein vorteilhaftes Geschäft mit Zaubermitteln und seinen paar Tränkchen machen können; aber ein solcher Verdienst lockte ihn nicht; Falschheit und Heuchelei war ihm immer zuwider gewesen, und mit steigendem Zorn trieb er einen nach dem andern aus dem Hause, denn die Kunde von dem neuen Wunderdoktor hatte sich schon auf die umliegenden Dörfer verbreitet, und noch lange Zeit kamen die Leute von weit her, um bei ihm Hilfe zu suchen. Aber endlich verwandelte sich die Hoffnung auf seine Wunderkraft in Furcht und Angst; denn daß er von Zaubereien nichts wisse und keine Kuren machen könne, wollte ihm niemand glauben, und alle Leute, die eine Krankheit oder einen neuen Anfall hatten, nachdem sie bei ihm gewesen waren, legten ihr Unglück seinem bösen Willen und bösen Blicken zur Last. So kam es denn, daß das Mitleid für Sally Oates, welches ihn vorübergehend in freundlichen Verkehr mit seinen Mitmenschen gebracht hatte, schließlich die Kluft zwischen ihm und den Nachbarn noch erweiterte, so daß er vollständig vereinsamte.
Allmählich wuchsen die Goldstücke, die Kronen und die halben Kronen zu einem Haufen, und Marner wurde immer sparsamer in seinen Bedürfnissen, indem er sich möglichst billig bei Kräften zu halten suchte, um sechszehn Stunden des Tages zu arbeiten. Haben nicht Gefangene ein Interesse daran gefunden, die Zeitabschnitte mit graden Strichen von einer gewissen Länge auf der Wand zu bezeichnen, bis ihnen endlich die Zusammenstellung dieser Striche in Dreiecke zu einer unwiderstehlichen Gewalt wurde? Verbringen wir nicht Augenblicke der Leere oder Ermüdung damit, irgendeine gleichgültige Bewegung zu wiederholen, bis die Wiederholung ein Bedürfnis erzeugt hat, welches der Beginn einer Gewohnheit ist? Das wird uns verstehen helfen, wie die Freude am Anhäufen von Geld eine verzehrende Leidenschaft bei Menschen wird, die sich zuerst gar nichts dabei dachten. Marner empfand das Bedürfnis, die Haufen von zehn erst zu einem Viereck und dann zu einem größeren Viereck anwachsen zu sehen, und jedes neue Goldstück gab ihm neben dem Gefühl der Befriedigung zugleich neues Verlangen. In dieser wundersamen Welt, die für ihn ein hoffnungsloses Rätsel geworden war, hätte er sitzen können und weben und weben und immer nur auf das Ende seines Gewebes blicken, bis er das Rätsel und alles andere außer seiner unmittelbaren Empfindung vergessen hätte, aber nun war das Geld da und bezeichnete Zeitabschnitte in seinem Leben, und es mehrte sich nicht nur, sondern blieb bei ihm. Mit der Zeit war es ihm, als ob es ihn kenne, grad wie sein Webstuhl, und nun und nimmer hätte er die Münzen, die seine vertrauten Freunde geworden waren, gegen andere Münzen mit unbekanntem Gepräge vertauscht. Er drehte sie in der Hand, er zählte sie bis ihre Form und Farbe ihm war wie die Befriedigung eines Durstes, aber nur spät abends nach getaner Arbeit holte er sie hervor, um sich an ihnen zu laben. Im Fußboden unter seinem Webstuhl hatte er einige Steine losgemacht und ein kleines Loch gegraben, wo er den eisernen Topf mit den Gold- und Silbermünzen hineinsetzte, und jedes Mal, wenn er die Steine wieder hineinfügte, bedeckte er sie mit Sand. Nicht als ob ihm der Gedanke gekommen wäre, es könne ihm gestohlen werden; Geld ansammeln war damals in ländlichen Bezirken ganz gewöhnlich; es gab in Raveloe alte Tagelöhner, von denen man wußte, sie hätten ihre Ersparnisse zu Hause, vermutlich in ihren Betten, aber obschon ihre ländlichen Nachbarn nicht alle so ehrlich waren, wie ihre Vorfahren in den Tagen König Alfreds, so war ihre Einbildungskraft doch nicht kühn genug, um sich einen Einbruch auszudenken. Wie hätten sie das Geld in ihrem eigenen Dorfe ausgeben können, ohne sich selbst zu verraten? Sie hätten »davongehen« müssen, und das war eine so bedenkliche Geschichte und ging so ins Blaue, wie eine Fahrt im Luftballon.
So lebte denn Silas Marner einsam Jahr auf Jahr, während seine Goldstücke in dem eisernen Topf immer höher stiegen und sein Leben mehr und mehr zu einem bloßen Wechsel von Begierde und Genuß sich verengte und verhärtete, dem jede Beziehung zu einem andern menschlichen Wesen fehlte. Sein Leben kam nur noch auf Weben und Geldsparen hinaus, ohne daß er bedacht hätte, was er damit wolle. Dieselbe Entwicklung haben auch wohl schon weisere Männer durchgemacht, wenn sie sich von Glauben und Liebe losgerissen hatten; nur befaßten sie sich dann, statt mit einem Webstuhl und einem Haufen Goldstücke, mit einer gelehrten Untersuchung, einer sinnreichen Erfindung, oder einer höchst verzwickten Theorie. In Marners Gesicht und Figur zeigte sich allmählich nur noch die stete mechanische Beziehung zu den Dingen, die seine Tage ausfüllten, und er machte ziemlich denselben Eindruck wie ein Henkel oder eine gebogene Röhre, die nichts bedeuten, wenn sie allein stehen. Die vorstehenden Augen, die früher einen biederen und träumerischen Blick hatten, sahen jetzt aus, als wären sie nur für ein einziges, ganz kleines Ding geschaffen, wonach sie überall suchten, und er war so welk und gelb geworden, daß ihn die Kinder, obschon er noch nicht vierzig Jahre zählte, immer den »alten Meister Marner« nannten.
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