Friedrich fröstelte. Der kalte Wind fuhr ihm unter den Umhang, in den er sich gehüllt hatte. Es begann zu schneien. Doch war es nichts Ungewöhnliches, dass hier in dieser rauen Region der Winter früh kam. Friedrich löste den Blick vom fernen Waldrand und schaute in den Hof seiner Burg. Von hier oben konnte er das Torhaus und einen Teil der Zwingmauer erkennen. Die meisten Gebäude waren aus Holz. Nur seine Halle mit der darüber gebauten Kemenate und der fünfzehn Meter hohe, einzelnstehende Turm sowie die Wehrmauern waren aus Stein.
Ein Junge war soeben durch das Tor hereingekommen, begleitet von dem alten Juri, der die Burgmannschaft befehligte. Friedrich hörte, wie das große Fallgitter am Tor mit einem lauten Rasseln wieder herabsank. Die beiden gingen auf die Halle zu. Am Eingang sprach Juri kurz mit einem der Wächter, die Friedrich hier immer postiert hatte. Chomotau besaß keinen Graben, und er wollte sichergehen, dass niemand unbemerkt über die Mauer kommen konnte und sich ins Haus einschlich. Der Mann wies in Richtung des Turmes und Juri schaute nach oben. Als er Friedrich erblickte, winkte er diesem zu und zeigte auf den Jungen.
„Herr, ein Bote aus Louny!“ rief er, doch seine Worte wurden von den lauten Windgeräuschen oben auf den Zinnen fast verschluckt. Friedrich winkte kurz zurück. Wenige Augenblicke später stand er im Hof und schaute fragend auf den Burghauptmann und dessen Besucher. Der Junge mochte vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein. So genau konnte er das nicht sagen, da der Bursche relativ mager war. Unter einer unförmigen Mütze, die seinen Kopf bedeckte, schauten Strähnen zotteligen Haares hervor, das von einer etwas undefinierbaren Farbe war. Ein Kittel, der bis zu den Schenkeln reichte, bedeckte die mageren Schultern. Die Beine steckten in weiten unförmigen Hosen und an den Füßen trug er alte Stiefel, die er mit Schnur fest umwickelt hatte, damit sie nicht auseinanderfielen. Alles in allem gab der Junge ein bedauernswertes Bild ab, dennoch schien er fröhlichen Gemüts zu sein.
„Herr, der Junge ist ein Bote aus Louny. Es gibt Kunde von Eurem Neffen.“ Der alte Burghauptmann blickte seinen Herrn voller Hoffnung an.
Friedrichs Herz krampfte sich zusammen. Was, wenn der Knabe nur schlechte Nachrichten brachte? Doch lächelte der Bursche. Der Blick aus seinen hellblauen Augen war offen und ehrlich. Und die Sommersprossen auf seiner wohlgeformten Nase gaben ihm ein fast fröhliches Aussehen.
Friedrich holte tief Luft. „Nun, was hast du zu sagen, Junge? Was weißt du von Falk von Schellenberg?“, fragte er etwas barscher als beabsichtigt, da die Gefühle seine Stimme zu überwältigen drohten.
„Ich habe eine Nachricht von Eurem Neffen für Euch, Herr“, sagte Andris und verbeugte sich ehrerbietig. „Ich sah ihn zuletzt am Tage der geplanten Hinrichtung.“ Friedrich hob die Hand und wollte ihn ungehalten unterbrechen. Aber Andris fuhr davon unbeeindruckt fort. „Ich weiß, dass ihm die Flucht aus Louny gelungen ist.“ Er machte eine theatralische Pause, doch der missbilligende Gesichtsausdruck Friedrichs ließ ihn schnell wieder ernst werden. „Und vor allem, wie“, setzte er allerdings fast triumphierend hinzu.
Friedrichs Augenbrauen schnellten nach oben. „Und woher willst du Nichtsnutz das wissen?“
„Weil ich ihm dabei geholfen habe“, sagte der Junge und grinste gutmütig, ohne im Geringsten darüber beleidigt zu sein, dass der Herr ihn als Nichtsnutz betitelte. Man hatte ihm schon wesentlich schlimmere Namen verpasst.
„Ach was“, entfuhr es Friedrich von Chomotau und er machte ein etwas dümmliches Gesicht. „Du?“, fragte er dann mit erstaunter Stimme. „Und wie kommt es, dass ein Junge wie du, einem Ritter zur Flucht verhelfen kann?“
„Nun, das ist eine längere Geschichte, Herr“, antwortete Andris. Als er dem drohenden Blick des Ritters begegnete, setzte er schnell hinzu: „Aber es ist wahr, Falk von Schellenberg konnte entkommen, und das letzte, was ich mitbekam, als ich Louny verließ, war, dass der Gaugraf Gift und Galle gespuckt hat, weil seine Büttel die Flüchtigen noch nicht eingefangen hatten.“
Ein kalter Windstoß fuhr über den Hof und ließ ein paar Flocken aufwirbeln. Andris fröstelte und zog die Schultern nach oben, um der Kälte zu entgehen, die sich langsam durch seine dünne Kleidung fraß. Unter dem fadenscheinigen Kittel trug er ein Hemd aus groben Leinen, was ihm die alte Schließerin auf Louny gegeben hatte, voller Mitleid darüber, dass der Junge nichts weiter, als den Kittel auf seinem Leib sein eigen nannte.
Friedrich bemerkte, wie der Junge das Klappern seiner Zähne unterdrückte. „Nun komm“, sagte er freundlich. „Gehe mit mir in die Halle. Am Feuer kannst du dich ein wenig aufwärmen.“ Er wies mit der Hand zum Eingang des steinernen Hauses. Andris folgte nur zu gern der Aufforderung, denn der eisige Wind machte ihm inzwischen sehr zu schaffen und er befürchtete, sich eine mächtige Erkältung eingefangen zu haben. Schnell stapfte er hinter dem Hausherrn her, der bereits in der Tür verschwunden war. In der Halle hatte man mehrere Kohlebecken aufgestellt, deren Qualm sich irgendwo unter den Deckenbalken verflüchtigte und in einem Abzug zum Dach hinausgeleitet wurde. In einem Kamin an der Längsseite des Raumes brannte zudem ein lustiges Feuer und verbreitete eine wohlige Wärme. Friedrich winkte Andris zu sich direkt vor die Feuerstelle und wies ihn an, sich auf einen Schemel zu setzen. Das ließ sich der Junge nicht zweimal sagen, froh darüber, sich etwas ausruhen zu können.
„Liska, hole einen großen Krug warmen Bieres für unseren Gast“, wies er eine vorübergehende Magd an. „Und beeile dich“, setzte er streng hinzu, als sie einen abfälligen Blick auf Andris warf, ganz so, als wolle sie abschätzen, ob es sich der Mühe lohne, eilfertig zu sein. Doch die unheilverkündende Miene ihres Herrn ließ sie recht schnell mit dem dampfenden Getränk zurückkommen. Dankbar nahm Andris einen Becher entgegen und legte seine klammen Hände voller Wonne darum.
„Und nun, mein Freund, berichte mir ganz ausführlich, was du von Falks Flucht aus Louny weißt“, forderte ihn Friedrich von Chomotau ungeduldig auf und setzte sich auf den Stuhl, der dem Schemel am nächsten stand.
„Der Ritter von Schellenberg und seine Gemahlin, Krystina von Hauenstejn...“.
„Was sagst du da?“, unterbrach ihn Friedrich vollkommen perplex, ohne den Jungen weiterreden zu lassen. „Von Hauenstejn? Ich denke, sie ist die Tochter des Henkers?“
Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die junge Frau war die Nichte Kaspars von Hauenstejn. Wie hatte er das nur nicht erkennen können. Aber nun ja, sie sah auch ganz anders aus in ihrer Verkleidung. Er konnte es nicht fassen. Er hatte Krystina am Abend auch nicht an der Tafel gesehen, sich allerdings darüber weiter keine Gedanken gemacht und wollte seine Gemahlin später nach dem Verbleib des Mädchens fragen.
Fassungslos sah er Andris an. Das würde ja bedeuten, dass Falk vielleicht doch kein Ausgestoßener war. Krystina von Hauenstejn. Wenn das stimmte ... Er musste unbedingt seine Frau davon in Kenntnis setzen. Jetzt fiel ihm auch wieder ein, dass sie von einem ihrer Mädchen gesprochen hatte, dass verschwunden sei.
Andris Stimme riss ihn aus seinen davonstürmenden Gedanken. „Herr?“
„Schon gut Junge, erzähle weiter.“
„Also, der Ritter von Schellenberg und seine Gemahlin flohen durch die Straßen von Louny, nachdem man sie aus dem Kerker herausgelassen hatte. Der Ritter wollte den Stadtgraben erreichen und mit dem Boot übersetzen, bevor die Häscher sie eingeholt hatten. Doch leider war das Tor verschlossen. Beinahe hätte den Ritter der Mut verlassen, doch da kam ich ins Spiel.“ Anschaulich berichtete Andris Falks Onkel von der gelungenen Flucht und sparte nicht mit einer sehr ausschweifenden Beschreibung der Rolle, die er dabei gespielt hatte. Auch berichtete er von seinem Leben auf Burg Hauenstejn und seiner Bekanntschaft mit der Nichte des dortigen Herrn. Nur was gerade sie bewogen hatte, sich für Falks Leben einzusetzen, das wusste er nicht zu sagen.
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