Übers Wochenende ging ich wieder Tour, wie ich meine ausgedehnten Streifzüge durch Piano-Bars, Klubs und Diskotheken gern umschrieb. Tomas stand mir wie immer hilfreich zur Seite. Er öffnete mir Türen, die mir ansonsten verschlossen blieben. Davon gab es tatsächlich noch einige.
Tomas, ein vierundvierzigjähriger Franzose spanischer Abstammung, der in Zahnmedizin, Allgemeinmedizin und plastischer Chirurgie promovierte, verdankte ich, dass ich trotz meiner nicht eben unauffälligen Erscheinung zu jeder noch so versnobten Lokalität an der Costa del Sol ungehindert Zutritt erlangte. Obwohl es für meine kleine Geschichte nicht relevant ist, erwähne ich es dennoch. Schließlich kann nicht jeder von sich behaupten, einen Menschen mit drei Doktorwürden zum Freund zu haben.
Zu den Eigenarten meines kurzen dickbäuchigen Freundes gehörte, sich unaufgefordert neben dem Pianospieler niederzulassen, die stets mitgeführte Gitarre zu ergreifen und in das angespielte Stück einzustimmen. Erstaunlicherweise gab es niemals Reibereien mit den Musikern oder dem Personal. Vielleicht, weil ihn der Klang seiner Musik in eine Art Trancezustand versetzte. Tomas spielte nicht einfach, er liebkoste. Jeder Ton entlockte ihm ein Lächeln, ließ ihn ein Stück weiter über sein Instrument sinken bis nur noch ein breiter Scheitel und eine zärtlich streichelnde Hand über den Saiten zu sehen war, so als wolle er eindringen, aufgehen, eins werden mit der Musik. Vermutlich aber lag es vor allem daran, dass er ein erstklassiger Gitarrist war. Denn Tomas studierte auch Musik - am Lyoner Konservatorium.
Anders als Teresa bevorzugte Tomas eine eher gediegenere Klientel, was mit meinen Interessen durchaus konform lief. Wenn auch eine äußerliche Trennung von meinem neuen Arbeitsgebiet nicht opportun war, so musste ich doch auf einen ausgewogenen inneren Ausgleich achten.
Als mein Brummschädel und ich am Montagmittag in die Konditorei schauten, war Biggi mit dem reinigen des Verkaufsraumes beschäftigt. Ich wechselte nur wenige Worte mit ihr. Genau genommen murmelte ich einen verstümmelten Morgengruß und erholte mich beim Blick auf ihr wohlgeformtes Hinterteil. Gott, hatte die einen Arsch! Eine Frechheit, wie der beim Boden wischen zur Geltung kam. Zwar mochte ich sie nicht sonderlich leiden, konnte mir aber nur selten diesen oder jenen Hingucker verkneifen. Biggi war eine ebenso gut aussehende wie gut gebaute zweiunddreißigjährige Blondine. Die Schale konnte nicht leckerer sein, doch das Früchtchen faulte von innen her.
Während ihr Mann von morgens 3 Uhr bis abends 20 Uhr schuftete, schwitzte und seinem Körper die letzten Reserven abforderte, fand sie sich irgendwann im Laufe des Tages ein, trank Kaffee, unterhielt sich mit Kunden und verschwand nach einiger Zeit wieder, um sich am Strand von Sonne, Wasser, Wind und hübschen Jungs verwöhnen zu lassen. Für den Verkauf zeichnete derweil eine spanische Angestellte verantwortlich.
Mit einem ihrer Schönlinge setzte ich mich vor etwa drei Wochen auf der Toilette einer Bar im Jachthafen über Etikette und gutes Benehmen auseinander. Seither hat sie einen Neuen.
Ulli wusste vom Treiben seiner Frau und sah darüber hinweg. So groß und bullig der Kerl, so groß auch sein Herz.
"Noch fünf Jahre, dann muss der Laden ohne mich brummen", lautete seine Standardreaktion, schnitt ich das Thema an. Was er meinte, war: Die Konditorei in den nächsten fünf Jahren soweit in Schwung zu bringen, dass er sich zufrieden über das, was er geschaffen hatte, sorgenlos zur Ruhe setzen und einem anderen die Plagerei überlassen könne. Mir aber entging das Rumoren, das er an sieben Tagen die Woche über einen Siebzehnstundentag zu kompensieren suchte, nicht.
Kennen lernte ich die beiden eher zufällig auf einem Zwischenstopp meiner Reise nach El Salvador, von wo mir ein recht einträglicher Job angeboten wurde.
Achtunddreißig Stunden zuvor brach ich in Nürnberg auf und hatte mehr als zweieinhalbtausend Kilometer hinter mich gebracht. Meine Fahrt unterbrach ich bis Estepona nur ein Mal - für drei Stunden. Unter Zeitdruck stand ich eigentlich nicht. Den Druck machte ich mir wie üblich selbst.
Einigermaßen gut gerädert und hundsmüde strebte ich meine Wiederbelebung über ein paar Tässchen Kaffee an. Es war sieben Uhr am Morgen, als ich auf der Suche nach dem Elixier durch Estepona torkelte.
Für die letzten knapp sechzig Kilometer musste ich fit sein, denn ich plante, in La Linea mein kleines rotes Auto bestmöglich zu verscherbeln und die nächste Maschine von Gibraltar nach Großbritannien zu nehmen. Von da sollte es dann weiter nach El Salvador gehen. Den kleinen Umweg nahm ich gerne auf mich.
In La Linea, hatte ich in Erfahrung gebracht, bekäme ich fast das Doppelte dessen, was mir die Händler in Deutschland für meinen Wagen boten. Na gut, dabei würde es nicht ganz mit rechten Dingen zugehen. Aber was kümmerte mich das. Daneben sparte ich auch noch bei den Flugkosten, weil die Briten Passagen von Gibraltar nach London als Inlandsflüge abrechneten. War doch auch nicht zu verachten.
Nichts ahnend taumelte ich in das Café‚ mit dem köstlichsten Muntermacher weit und breit. Von meinem Tisch, in der Nähe des Seiteneingangs, sah ich durch die offenstehende Tür in eine schmale Einbahnstraße.
Doch schon nach fünfzig Metern schob sich ein Ungetüm in die Gasse und versperrte mir den Blick auf alles dahinter liegende. Unnachgiebig wie ein geschliffener Fels in der Brandung nötigte es Mensch und Maschine, ihm auszuweichen. Entweder neunzig Grad scharf nach links in eine Seitengasse oder in einem Bogen rechts um es herum. Beleidigt erhob ich mich, um den Tisch zu wechseln, als das Schild über dem Eingang des Gebäudes meine Neugier weckte. Ein weißes, offenbar recht neues Schild mit einer warmen, künstlerisch leicht geschwungenen, tiefschwarzen Schrift - wenige Zentimeter oberhalb des Sturzes angebracht. Ein sehr ansprechendes, pieksauberes Schild und irgendwie gar nicht spanisch.
Ich setzte mich und visierte das drei mal drei Meter große Objekt an. Meine Augen schmerzten, verlangten nach Ruhe, etwas Schlaf vielleicht. Doch ich blieb unerbittlich und schob den Kopf nach vorn, als ob ich dadurch wesentlich näher herankäme.
"Muss ich extra aufstehen? So weit kommt's noch, dass ich wegen des saudummen Dings meinen Kaffee vernachlässige", brummelte ich, wandte mich ab, zündete mit zittrigen Fingern eine Zigarette an, bestellte den nächsten Kaffee, stand auf und ging zur Tür. Jetzt wollte ich es wissen. Ich verengte meine tränenden Augen zu schmalen Schlitzen und starrte verbissen hinüber. "Pasteleria Alemana" las ich mir laut vor. "Wusste ich doch gleich, dass da was draufsteht, das kein Aas versteht", und ging zur Toilette.
Ab und zu führe ich Selbstgespräche oder Monologe - je nachdem. Dafür singe ich nicht in der Badewanne.
Nach dem vierten Glas Kaffee besann sich mein Hirn seiner Bestimmung und signalisierte sogleich, dass Alemana irgendetwas mit Deutsch zu tun haben müsse. Wohl, weil ich dahinter eine Anlehnung an das französische Wort für Deutsch vermutete. Kurz entschlossen zahlte ich, ging nach drüben und klopfte an. Die Tür blieb verschlossen. Eine schmale, in der Mitte geteilte, beide Flügel zu öffnende Tür, wie ich sie in dieser Gegend häufig an kleinen Geschäften in älteren Bauten, auch im MANICOMIO, antraf. Ich trat zwei Schritte zurück und suchte die Fassade nach einem Fenster ab, fand aber keines, das sich dem Laden zuordnen ließ.
Also klopfte ich nochmals, diesmal kräftiger gegen das Holz, von dem sich grünbraune Farbblättchen lösten und ein darunter liegendes schmutziges, dunkles Braun sichtbar machten. Die Oberfläche erinnerte mich ein wenig an einen missratenen Käsekuchen, dessen goldbraune Deckschicht im Backofen Blasen aufwirft, bis sie nacheinander zerplatzen und die aufgedröselten Ränder unappetitlich verbrennen, wodurch er noch verlockender wurde - und schmackhaft blieb er sowieso.
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