Ich tat es nicht der Peseta, die mir Ulli heimlich zusteckte, sondern unserer Freundschaft wegen. Biggi, seine Frau, durfte von dem Geld nichts wissen. Knauserig war sie bestimmt nicht, nein, Biggi war krankhaft geizig. Insbesondere ihrem Mann und seinen Freunden gegenüber.
Entspannt zündete ich mir eine Zigarette an, trank einen Schluck Kaffee, nahm den Hörer ab und sagte: "Beerdigungsinstitut Himmelsfreud."
"Grüß Gott, spreche ich ..."
"Nein, dem Herrn ist unpässlich."
"Spreche ich mit Wolf Fechter?"
"Das wiederum kann ich bejahen. Worum geht es?"
"Können Sie auch Ernst sein?", fragte er pikiert.
"Nein, aber Wolf. Und bei dem ist es eine Frage des Preises."
"Na schön. Sie haben Kontakt zu unseren Freunden, wie mir Herr Spehr berichtete. Richtig?"
"Und weiter?"
"Wir sind interessiert. Fahren Sie ins Baskenland und halten Sie uns von da auf dem Laufenden. Wenn auch nur die allerkleinste Hoffnung besteht, tiefer in diese Kreise eindringen zu können, sind wir dabei. Nächste Woche lassen wir Ihnen sechshundert Mark für Ihre Aufwendungen zukommen. Sind Sie einverstanden?"
Genüsslich strich meine Zunge über die Lippen. Warum zögern? Ich liebte das Geräusch knisternden Papiergeldes. Allein die bloße Vorstellung daran brachte mich nah an eine Erektion. Natürlich nahm ich das Angebot an.
"Wir schicken es Montag oder Dienstag ab. Zeitgleich wird sich mein Kollege bei Ihnen melden. Mit ihm können Sie dann alles Weitere besprechen."
"Aber nicht vor zweiundzwanzig Uhr dreißig."
Das war wichtig, um ungestört sprechen zu können. Kurz nach 22 Uhr schloss die Konditorei. Wenig später entnahm Biggi die Tageseinnahmen der Kasse, brachte sie zur Bank und fuhr anschließend heim. Ulli war um diese Zeit längst weg. Ich hatte einen eigenen Schlüssel, den Ulli anfertigen ließ, als ich zusagte, mittwochs seinen Laden zu hüten.
"Sie werden selbst rangehen, nehme ich an. Von uns spricht keiner die Sprache von da unten", und legte auf.
Die Sprache von da unten? Welche wird das wohl sein?
Auf die Rückseite eines herumliegenden, von einem Kunden verschmähten Kassenbon schrieb ich: "Bin im Büro! W.", und legte das Schnipsel ungefähr in die Mitte des Verkaufsraumes, auf die einzige schokoladenfarbene, inmitten fahlbraun glasierter Bodenfliesen aus gebranntem Ton.
Zur Feier des Tages genehmigte ich mir Kurzurlaub im MANICOMIO. Das Irrenhaus, wie es frei übersetzt hieß, lag keine fünfzig Meter von meinem Arbeitsplatz entfernt.
Pedro kam von der Toilette, rieb die Handflächen schnell und kräftig aneinander, als sei ihm ein ganz besonders guter Wurf gelungen und nickte mir beiläufig zu. Ich grüßte mit erhobenem Arm zurück, ging an drei älteren, Kaffee schlürfenden Männern vorbei seitlich um die Theke herum und nahm mir ein feuchtes Putztuch vom Spülbeckenrand.
Draußen befreite ich die Sitzfläche eines Stuhles vom Straßenstaub und setzte mich an einen der kreisrunden weißen Plastiktische, die Pedro jeden Morgen einladend vor dem Café am Straßenrand aufreihte. Nur geputzt hat er sie schon seit neun Jahren nicht mehr - aus Prinzip. Das Trinkgeld der Touristen sei zu mager, um auch noch die Putze zu spielen, sagte er mir einmal und verriet, unter der Bedingung, dass ich mich den Touristen gegenüber nicht verschwatze, wo ich ein ordentliches Putztuch fände. Sollte sich mal einer dieser Geizkragen bei ihm beschweren, was aber nur ganz, ganz selten vorkomme, dann entschuldigte sich Pedro für seine Angestellten, die er nicht hatte, weil er selbst der einzige Angestellte war, und gab ihm einen Lumpen, der bestimmt (dabei sah er verschmitzt lächelnd in die Ferne und tat so, als versuche er sich zu erinnern) seit einem Jahr oder länger kein sauberes Wasser abbekommen habe. Reinigungsmittel sowieso noch nie. Viel zu teuer.
Ich lehnte mich zurück und sah über die Hauptstraße durch die kleine Gasse, von deren Ende mir die grünbraune Eingangspforte der deutschen Konditorei, Ullis "Pasteleria Alemana", zublinzelte. Er, Ulli, war es, der dem MANICOMIO den Beinamen "Wolfs Büro" gab, weil ich mich nahezu täglich, gelegentlich auch mal vom Morgen bis zum Abend, darin oder davor aufhielt.
Mein Büro war ein typisches spanisches Café. Ein Original - und urgemütlich. Seine Lage ideal. Unmittelbar an der Hauptverkehrskreuzung des Ortes gelegen, wurde es hauptsächlich von Einheimischen frequentiert. Zur Zufriedenheit Pedros, kehrten nur selten Touristen ein. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, Touristen mieden mein Büro, weil es ihnen zu schmutzig sei. Mumpitz!
Vielleicht wegen der paar grünweißen Papiertütchen am Boden? Für mich ein Ausdruck andalusischer Lebensqualität. Ein MANICOMIO ohne die unzähligen leeren Zuckerportionstütchen auf dem Boden, wäre es nicht mein MANICOMIO, sondern eine dieser öden Eckkneipen. Außerdem schob Pedros Frau zwei Mal täglich einen breiten, weichen Besen um die Tische. Abgesehen davon blieb es jedem unbenommen, sich die Taschen voller Müll zu stopfen.
Na gut, ich gestehe ein, die Toilette war tatsächlich ein wenig daneben. Ich probierte sie aus. Nur ein Mal. Und dass lag auch schon einige Monate zurück. Gut, sie war eng. Dafür aber ohne beißenden, die Magenschleimhäute bis zum Würgreiz kitzelnden Desinfektionsgestank. Es roch mehr nach einer Abdeckerei, bei der seit Tagen Kühlsystem und Klimaanlage ausgefallen sind.
Und dreckig war sie auch nicht. Ich meine, es lag nichts herum, was eigentlich in den Topf gehörte. Und doch war mir als bekäme ich eine schlimme Infektion, einhergehend mit offenen Entzündungen, eiterigen Abszessen und unerträglichen Qualen, streckte ich die Hand nur nach dem Papier. Hinter die eigenartigen Lichteffekte bin ich nie gekommen. Fenster oder Lampe gab es nicht. Das heißt, ein fünfzig Zentimeter breiter und zehn Zentimeter hoher Schlitz über der Tür sorgte für mäßige, aber ausreichende Helligkeit. Nicht zu vergessen, dass an Orten wie diesem ohnehin mehr der Tastsinn gefordert ist.
Und dann waren da noch ein paar Fliegen, die rastlos umherschwirrten, sich an den Wänden niederließen und sie schwarz färbten. Vielleicht Hundert, vielleicht einige Tausende - was macht das schon, wenn eine Schmeißfliege genügt, einem zum Mörder werden zu lassen.
Beim Vorüberschlendern jedenfalls war von alldem absolut nichts wahrnehmbar.
Ich liebte dieses Café! Und es gab viele gute Gründe, weshalb ich mich ausgerechnet hier so ausgesprochen wohl und behaglich fühlte. Vier der Wichtigsten waren, dass es im MANICOMIO den besten Kaffee der Stadt, wohlschmeckende Paprikawürstchen und die leckersten Schweinsohren (Kunststück: die lieferte Ulli.) gab und mich niemand von oben herab wie einen unerwünschten Ausländer behandelte. Die Menschen waren zugänglich, freundlich, aufgeschlossen, ehrlich im Umgang mit Fremden und hielten ihre Versprechen. Nichts Aufgesetztes. Entsprechend höflich auch der Umgangston untereinander. Gründe genug, meinem Irrenhaus die Stange zu halten.
Da saß ich also in schönstem Sonnenschein am Straßenrand. Pedro eilte herbei und stellte ein Glas frisch gebrühten Kaffee mit Milch und Zucker vor mir auf den Tisch. Er brachte ihn, ohne gefragt zu haben. Und ich dankte ihm für seine Aufmerksamkeit - jedes Mal. Zeigte sie doch, dass ich zur Familie gehörte.
Bevor er wieder im Inneren verschwand, warf ich noch schnell einen Blick auf sein weißes Oberhemd. Auf beeindruckende Weise legte dessen Verschmutzungsgrad Zeugnis über die Intensität seines Tagesgeschäfts ab. Es war ein ruhiger Tag.
Seit nunmehr über vier Monaten, also seit dem Tag als ich in Estepona, einem Ort mit ländlichem Flair, in dem bodenständige Menschen leben, eintraf und im MANICOMIO meinen ersten Kaffee trank, begeisterte mich dieser Teil seiner Berufskleidung. Eigentlich ging es mich überhaupt nichts an, auch verbarg sich kein tieferer Sinn dahinter - es erheiterte mich einfach nur.
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